Dienstag, 23. April 2013

Carmen Sylva - Das Leiden

Otto Mueller - Mädchen auf der Liege

Das Leiden

Ein Märchen
von
Carmen Sylva


                                                                     Motto: Es giebt zwei himmlische Mächte: 
                                                                    Geduld und Arbeit.
                                                                                                               Scherr.

Das Leiden war ein schönes, schlankes Kind, mit schwarzen Haaren, die sein bleiches Gesicht umrahmten. Die feinen Lippen waren fast immer geschlossen, die schwarzen Augen so todestraurig, daß Niemand sie ansehen konnte, ohne zu weinen. Das arme Kind hatte keine Heimath und wanderte ruhelos von Ort zu Ort. Bald kehrte es in die Hütten der Armen ein, bald in die Paläste der Reichen. Es war so still und kummervoll, daß Alle es aufnahmen, aber sonderbar, wer es ansah, der wurde von einem furchtbaren Weh befallen. Der Eine verlor sein einziges Kind, der Andere seine Ehre, sein Hab und Gut, der Dritte wurde von seinen Feinden unschuldig verfolgt; wieder einem Andern mißriethen alle seine Kinder, so daß er vor der Zeit ergraute. Oder es kam Unfrieden unter die Eheleute, oder Einer aus der Familie fiel auf das Krankenlager und stand in Jahren nicht wieder auf. Die Leute sahen sich erstaunt an, woher ihnen soviel Ungemach käme, und wußten nicht, daß sie dem stillen, blassen Leiden selbst die Thür geöffnet, es selbst an ihren Tisch gerufen hatten. Das arme Kind kehrte zuweilen desselben Weges zurück und erfuhr dann, welche schrecklichen Gaben es ausgestreut. Dann vermied es lange Zeit, die nämlichen Häuser zu besuchen. Doch hatte es einige Menschen lieb gewonnen und verging vor Sehnsucht nach ihnen, merkte auch nicht immer, daß es sie zu oft besuchte. Da kam dann Trübsal auf Trübsal über sie, bis das traurige Kind den Wanderstab ergriff und ihnen mit schwerem Herzen und überströmenden Augen Lebewohl sagte. Es ging so still des Weges, nicht hastig, nicht stürmisch, und doch ging es schneller als der Bergstrom, schneller als der Westwind, und kehrte bei allen, allen Menschen ein. Das Schrecklichste war, wenn es sich zu Kindern gesellte, und die armen Kinder wurden Waisen oder bekamen langwierige Krankheiten, so daß ihre schönen Gesichtchen eben so bleich und zart wurden wie Leidens Antlitz, und ihre Augen so dunkel und traurig. Wenn Leiden das sah, dann weinte es bitterlich und blickte lange Zeit kein Kind mehr an, ja es drehte den Kopf weg, wo Kinder spielten.
Eines Tages lag es unter einem Apfelbaum und sah, wie die kleinen Aepfel so prachtvolle rothe Backen hatten, daß man ganz fröhlich wurde, wenn man sie anschaute. »O lieber Apfelbaum,« rief das Leiden, »schenke mir so schöne rothe Backen, man sähe mich viel lieber an!« »Nein,« sprach der Apfelbaum, »hättest du schöne rothe Backen, so würde man dich nicht mehr so mitleidig aufnehmen und beherbergen.«
Traurig stand es auf und wanderte des Weges. Da kam es in einen Garten am Fluß; in dem war ein solches Vogelsingen, daß einem das Herz lachte. »O Ihr lieben, kleinen Vögel,« rief das Leiden, »schenkt mir euren lieblichen Gesang, daß ich die Menschen erfreue!« »Nein, liebes Kind,« zwitscherten die Vögel, «kämest du nicht so leise und gingest so still, da würden die Menschen dich nicht so bald vergessen und merken, daß du das Leiden bist und Schmerzen bringst.«
Und weiter wanderte das arme Leiden und kam in einen hohen Wald. Der duftete so lieblich, und es ging sich so weich auf dem dicken Moos unter den Bäumen. Hie und da stahlen sich die Sonnenstrahlen durch das flüsternde Laub und zitterten und tanzten auf dem Moos dahin und vergoldeten die welken Blätter. Es war eine Pracht. Leiden lehnte müde an einem Baum. »Hier darf ich einkehren und bringe keine Schmerzen, hier darf ich ausruhen, und Keiner sieht sich krank an mir.« Da kam ein Sonnenstrahl durch das Laub geschlüpft, sah die wunderschönen, lichtlosen Augen, sprang hinein, erleuchtete sie hell und drang dem Leiden bis inʼs Herz. Und der ganze Wald sah das wunderbare Leuchten in dem zarten Mädchengesicht und rauschte auf vor Freude und Bewunderung. Das Leiden wußte aber nicht, daß es schöner geworden, sondern fühlte den Sonnenstrahl nur heiß und fröhlich in seinem Herzen zittern. »O lieber Wald,« rief es laut, »schenke mir einen einzigen deiner tausend Sonnenstrahlen, ich wäre glücklich!« Da wurde es mit einem Mal todtenstill im Wald, die Bäume sahen einander traurig an, der Sonnenstrahl entwich aus Leidens Augen, streifte eine schimmernde Eidechse und versteckte sich unter hohen Farrenkräutern. »Du armes, armes Kind,« sagte eine alte Eiche, »ein einziger Sonnenstrahl machte dich zu schön; die Menschen würden dich zu viel herbeirufen, und dann müßten sie Schmerzen ertragen weit über ihre Kräfte! Du mußt ohne Glanz und ohne Wärme bleiben!« Langsam fiel eine heiße Thräne auf den Waldmeister zu Leidens Füßen; der schickte süßen Duft hinauf und flüsterte Dank für den Thau.
Weiter ging die ruhelose Maid und kam an einen großen, stillen See. Da rührte sich Nichts; nur der Abend schritt über das Wasser, er selbst im Schatten, aber um ihn her zogen rosige Streifen durch das Wasser, und hie und da fiel ein Stern hinein und schwamm unbeweglich auf der stillen Fläche. Leiden tauchte ihre zarte Hand in den See und legte sie an die Stirn. Der Abend kam auch an ihr vorbei und flüsterte: »Gute Nacht! Schlaf traumlos! vergiß dein Weh!« Sie sah ihm lange nach und seufzte leise: »Einmal habe ich Ruhe gefunden im Wald; einmal mein Weh vergessen mit dem Sonnenstrahl im Herzen, das ist vorüber!« Im Traum verloren schaute das Kind in den See; aus dem wehte es kühl und in den Nebeln schwebten die Nixen darüber hin.
Da sah das Leiden ein röthliches Licht hineinfallen, größer, feuriger als die Sterne und fortglimmen durch die Nacht. Wie es seine Augen erhob, merkte es, daß das Licht aus einem Hause am See fiel; das war dicht mit Epheu überwachsen, nur aus dem spitzbogigen Fenster, das offen stand, fiel der Lichtschein. Sonderbar, dachte das Leiden, hier bin ich noch nie eingekehrt, und doch wacht dort Jemand! Sie schlich zum Fenster; da saß eine wunderschöne Frau mit schneeweißen Haaren in einem langen, weichen Gewand, ein feines Tuch um den Kopf gelegt. Sie schrieb emsig in ein großes Buch mit fester Hand, und fest und streng lag eine tiefe Furche zwischen den Brauen. Aber um die feinen Nasenflügel und Lippen lag es wie zarteste Weiblichkeit und edelste Herzensgüte. Das Leiden stand in Betrachtung verloren, da erhoben sich zwei wunderbare, graue Augen, sahen sie ruhig an, und eine tiefe klangreiche Stimme sagte: »Komme nur herein, Kind, ich habe schon lange auf dich gewartet!«
Erstaunt trat Leiden ein, das hatte sie noch nie gehört. Mit einem Mal umschlangen es weiche Arme, es ward auf den Schooß genommen und geküßt, und die wunderbare Frau sagte: »Liebes Leiden! Du mußtest mich finden, ich durfte dich nicht suchen, denn ich komme niemals ungerufen. Ich bin die Mutter Geduld und sitze hier und horche und wache. Der See trägt mir die Stimme aller derer zu, die mich rufen. Oft bin ich auf deiner Spur gegangen, aber leider nicht immer.« Die Falte in der Stirn wurde tiefer. Leiden barg seinen Kopf an der mütterlichen Brust. »O geh doch immer mit mir!« bat es leise. »Mein Kind, wenn du mich rufst, dann komme ich, und wenn du müde bist, kehre bei mir ein. Ich muß das Buch des Lebens schreiben, da habe ich viel zu thun!« Das arme, kleine Leiden blieb die ganze Nacht bei der Mutter Geduld, und Morgens wanderte es gestärkt hinaus. Da blühte und grünte die ganze Welt, es war Erntezeit. Leiden sah den Mohn und die Kornblumen an und dachte: »Ihr Armen! jetzt blüht ihr so lustig und glänzt in der Sonne, und heute werdet ihr doch abgeschnitten!« Da stand ein herrliches Mädchen allein im Feld und mähte so rasch wie drei Männer. »Guten Morgen, blasses Lieschen,« rief sie schelmisch, »komm und hilf mir!« und damit sprang sie herzu, und ihre Zöpfe flogen, und die blauen Augen lachten wie der liebe Sonnenschein. »Wer bist du denn?« fragte sie erstaunt, als sie Leidens dunkle Augen sah. »Ich bin das Leiden und muß ewig wandern. Und wer bist Du?« »Ich bin die Arbeit, siehst du es denn nicht! Siehst du nicht, wie gesund ich bin, und was für starke Arme ich habe?« Und damit nahm sie das Leiden wie ein Kind auf die Arme und lief mit ihm über das ganze Feld und lachte und jodelte dazu. Ueber Leidens Gesicht war eine leichte Röthe geflogen, und es sagte lächelnd: »Gehʼ du mit mir! Ich darf niemals ruhen und bin doch oft so müde.« »Das geht nicht, Schwesterlieb; denn ich muß schlafen, um bei Tage wieder frisch zu sein. Ich bin an allen Orten überall und nirgends, und muß lachen, und wenn ich immer deine Augen sehe, dann stirbt mir das Lachen da drinnen. Aber wenn du mich rufst, dann komm ich und bleibe zurück, wo Du scheidest, um die Gesichter wieder hell zu machen!«
Und weiter schritt das Leiden in den glitzernden Morgen hinein und durch die weite Welt. Geduld und Arbeit hielten aber Wort und wurden seine treuen Gefährten. Oft versammelten sie sich Abends im Hause am See und lasen im Buch des Lebens oder schrieben hinein.

Aus: Nord und Süd, Eine deutsche Monatsschrift, Herausgegeben von Paul Lindau, Zwanzigster Band, Verlag von S. Schottlaender, Breslau, 1882, S. 1 ff.

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