Mittwoch, 17. November 2010

Eliza Orzeszkowa – Blumenhochzeit

Es war ein Tal, rings eingeschlossen von Hügeln, welche mit leichten, dünn gepflanzten Föhren bestanden waren, und das Tal hatte nur eine Öffnung nach außen, auf die weite Welt, gleichsam ein Tor, durch welches man auf die Felder, Stege und den durch die Ferne getrübten Himmel hinausblicken konnte. Ringsum gekrümmte Wände voller Zacken und Klüfte, überzogen mit einer Bürste von nadelförmigen Stämmen auf blättrigem, gemustertem Grunde. Auf der Talsohle befand sich eine kleine runde Wiese, auf dieser einige verstreute Bäume und Sträucher, eine Menge Gräser und Blumen. Im ganzen ein verborgenes Winkelchen der Welt, still, bescheiden, enge ... Kaum zu glauben, daß da etwas Merkwürdiges vor sich gehen könnte, und doch war dem so.
In einer Juninacht geschah es, in einer heiteren, stillen und dunklen Nacht. Still war die Nacht, denn alle Winde und Windchen schliefen einen tiefen Schlaf; dunkel, denn der Juni, das ist nicht der August, der den nächtlichen Himmel mit einer ungeheueren Menge ungeheuer funkelnder Sterne schmückt. Auch jetzt leuchteten Sterne, aber dünn gesäet und blaß niederschimmernd aus dem fast schwarzen Himmelsgewölbe.
Und bei diesem schwachen Sternenlichte glitzerte etwas wie blasses Gold auf der Wiese. Das waren die weitgeöffneten Augen des Nachtlichtes.
Das Nachtlicht ist freilich nur eine Blume, aber nicht die erste beste; sogar die gelehrten Männer kennen sie und haben ihr den schönklingenden Namen oenoterus biennis gegeben. Alles ringsum schläft, alle Pflanzen haben die Augen zugemacht, die Kronen zusammengefaltet, sogar die Kräuter und die winzigen Gräser schlafen schon, an die Erde geschmiegt, nur das Nachtlicht allein unter den Seinigen wacht, wie immer. Von der Spitze seines Stengels, der so hoch ist, daß er alle an Wuchs überragt, blicken seine Augen gewöhnlich die ganzen Sommernächte hindurch unermüdlich, weit geöffnet, zahlreich und groß. Daher haben ihm einige aus der Menge den Namen Nachtlicht beigelegt, andere nennen es Freudenblume, weil von ihm die goldenen Tropfen der Freude auf den schwarzen Mantel der Nacht niederfallen. Doch heute sehnte sich das sonst schlaflose Nachtlicht noch weniger als gewöhnlich nach dem Schlummer. Mit der ganzen Kraft der Nerven, die seine lanzenförmigen Blätter durchlaufen, dankte es der Mutter Natur für die Gabe der Schlaflosigkeit, denn es war eine wonnige Nacht, eine Nacht des Entzückens und der vorhochzeitlichen Träume. Sobald die Dunkelheit der Nacht dem Lichte des Tages wich, bei Sonnenaufgang, fast in dem Augenblick, da die Schmetterlinge Schwingen bekamen und die Tautropfen zu funkelnden Brillanten wurden, sollte seine Hochzeit stattfinden. Hochzeit? Mit wem? Welche von den Schönheiten der Wiese hatte ein Freier beglückt, den die Natur mit dem höchsten Wuchs und mit einer Menge weiter, heller, ewig wachender Augen ausgestattet hatte? O, es war keine schlechte Wahl, die er getroffen, und er sollte keine unebenbürtige Ehe schließen. Vor einigen Tagen, als seine noch in den Kelchen verhüllten Augen kaum durch ein sich lüftendes Blättlein auf die Welt hinausblickten, sah er, nur einige Schritte entfernt, die Alcea stehen, eine Tochter des mächtigen und weit verbreiteten Geschlechtes der Malven, die ebenso wie er erst die Augen zu öffnen anfing. Er sah und fühlte sofort, daß alle Säfte in seinem Stengel, von der Wurzel bis zur Krone, rascher zu kreisen anfingen, und das Albumin in ihm erharrte, als hätte man ihn in heißes Wasser getaucht. Wenig fehlte und er wäre vor Rührung hingewelkt beim Anblicke der Geliebten, und es rettete ihn nur der Umstand, daß bei diesem Anblicke sein Traubenzucker sich vermehrte und ihn mit gesteigerter Süßigkeit erfüllte.
Ihrem Bewunderer an Wuchs nur wenig nachstehend, ebenso geschmeidig und biegsam wie er, blickte die malve alcea hinter ihren feinen Blättern, denen die tiefen Einschnitte eine wahrhaft aristokratische Zartheit verliehen, auf das Nachtlicht, mit ihren vielen Augen, die ebenso wie bei diesem noch in den Kelchen verhüllt waren, denen man es aber ansehen konnte, daß sie sich bald rosig färben würden. Aus Neugierde und Entzücken lüftete sie, gleich ihm, an jedem Auge ein Blättchen, und so blickten sie beide auf einander im Lichte der Sonne, während ihre Blätter von den Winden gestreichelt wurden, denen in diesem Reiche das Amt der Brautwerber und das der Ceremonienmeister bei allen Hochzeitsfeierlichkeiten zufällt.
Die beiden hätten wohl am liebsten sofort, im ersten Augenblick der Bekanntschaft, mit einander Hochzeit gefeiert, aber die Mutter Natur verweigerte die Einwilligung und befahl den Verliebten, bis zu beiderseitiger Volljährigkeit zu warten. Gestern war endlich dieser Moment gekommen, und bevor der Tag zu Ende ging, als die Sonne, sich im Westen senkend, mit ihren schrägen Strahlen die Spindelbäume, Haselnußsträucher und Farnkräuter einhüllte und die die Erde bedeckenden Föhrennadeln beleuchtete, da fing der Kuckuck an, sich auf eine seltsame, die Aufmerksamkeit herausfordernde Weise bemerkbar zu machen. Das ist freilich auch sonst ein sehr beweglicher und geschwätziger Vogel, aber gestern schien er überhaupt keinen Augenblick Ruhe halten zu wollen; er war überall voll, stieß mit den flatternden Flügeln alle Zweige der Bäume und Sträucher an, so daß die in ihren Nestern sitzenden Stieglitze Zeisige, Finken und Amseln, die sich schon ein wenig zum Schlafengehen rüsteten, neugierig ihre Köpfchen nach diesem großen Gesellen umwandten, in der Erwartung, was wohl daraus werden und was für eine Neuigkeit er ihnen verkünden würde. Denn daß er und kein anderer jegliche Kunde brachte, wenn etwas Wichtiges in der Gegend vorfiel, war männiglich bekannt. Das war seines Amtes und er übte es mit Vorliebe aus, zumal er alle passenden Eigenschaften der Stimme und des Temperamentes besaß. Auch jetzt, nachdem er, um die allgemeine Aufmerksamkeit zu erregen, genügend zwischen den Bäumen und Sträuchern herumgeflattert war, blieb er an einem hohen Zweige hängen und rief so laut als möglich: »Ku—ku! Ku—ku!«
Dann fing er an zu lachen, daß es weithin hallte.
Und von den verschiedenen Zweigen, oben und unten, von allen Seiten wandten sich die Köpfchen der Vögel einander zu und fingen an zu zwitschern: »Was? was? was? Wer? wer? wer? Zi! Ziii! Fiu! Fiuu!«
Sie hatten verstanden. Der Kuckuck kündete für den nächsten Morgen einen Hochzeits schmaus an, wozu man einer Musikkapelle bedurfte, einer zahlreichen, fröhlichen Musikkapelle, welche in dem Momente der Trauung aufspielen sollte, just in dem Augenblick, da die goldene Stirn der Sonne aus der rosenroten Morgendämmerung auftauchen wird. »Ein Orchester für morgen!« rief der Kuckuck. »Ein Orchester am Saume des Waldes, am Rande der Wiese, morgen, sobald die Schmetterlinge erwachen und der Tau sich in Brillanten verwandelt.«
Die kleinen Musikanten mitten in den grünen Nadeln und Blättern drehten die Köpfchen und schüttelten die Schnäbelchen zum Zeichen ihrer Bereitwilligkeit.
»Gewiß, gewiß! Warum denn nicht? Sehr gern! Schade nur, daß die Hauptsängerin unter uns nicht da ist. Die Nachtigall ist verstummt. Wäre es etwas zeitlicher, so hätte die gerade das schönste und zärtlichste Hochzeitslied angestimmt. Aber wir werden es auch ohne sie machen. Wir bringen es fertig. Wir werden tun, was in unserer Macht ist.«
Während diese Vereinbarung unter den Vögeln zustande kam, breitete ein Schmetterling, ein schöner, großer Schmetterling seine dunklen, mit Purpur gesprenkelten Flügel aus, die er, an dem Goldkopfe des Jakobskrautes hängend, schon zum Schlaf gefaltet hatte, und wiegte sich sinnend in der Luft. Doch er sann nur eine Weile, denn, obwohl sein Köpfchen im Vergleich zu den Flügeln sehr klein war, begriff er bald, was vorging, und im langsamen, horizontalen Flug segelte er über die Erde dahin. Kaum hatte er eine kurze Strecke zurückgelegt, so umschwärmte ihn schon ein Haufe anderer, kleiner Schmetterlinge, gelber und blauer, blasser und weißer, die aus den Büschen und Gräsern von allen Seiten herbeigeflogen kamen.
Sie umgaben ihren Führer und eine Weile kreisten sie in der Luft, während sie mit den Flügelchen einander anstießen und mit den Fühlern geheimnisvolle Bewegungen ausführten. Doch du alles dauerte nicht lange. Die Schmetterlinge erfuhren bald, was geschehen werde. Und sobald sie es wußten, wußten sie auch schon, was ihnen zu tun oblag, und als hätte der Wind sie zerstreut, zerstoben sie nach allen Seiten und verschwanden in verschiedenen Ecken und Winkeln. Der Führer aber, jener große Schmetterling mit den Purpurtropfen auf den Flügeln, eilte zu dem Goldköpfchen des Jakobskrautes zurück, erhob die Flügel senkrecht, und es dauerte lange, bis er sie zum Schlaf zusammenfaltete. Er dachte an die Aufgabe, die ihm am nächsten Morgen oblag, und das war keine geringe Aufgabe; denn das, was seiner harrte, war der wichtigste Akt bei der Hochzeit eines Blumenpaares.
Wenn nämlich der geeignete Moment kommen würde, würde der Schmetterling seine Flügel ihrer ganzen Breite nach ausdehnen, durch die Luft über die Wiese dahinsegeln, einen Augenblick an der Wimper des Bräutigams verweilen, ihm einen Kuß rauben, und ihn dann auf das Auge der Braut legen. Und diese Tat des großen Schmetterlings würde der eigentliche Vermählungsakt zwischen dem Liebespaar werden, diesen Akt zu vollziehen steht nur dem Schmetterling allein zu, das ist im Reiche der Blumen sein ausschließliches Vorrecht, ebenso wie es des Amtes des Kuckucks ist, jegliche Kunde von dem, was in der Welt vorgeht, zu bringen und zu verbreiten.
Doch nicht genug damit. Nach dem großen Schmetterling, gleich wie unter der Führung eines Feldherrn, würde ein ganzes Heer von kleineren Schmetterlingen ausschwärmen, von gelben, blauen, blassen, weißen Schmetterlingen, sich über die Wiese verstreuen und anfangen Küsse von den Augen der einen Hochzeitsgäste auf die der anderen hinüberzutragen, Küsse, die jedoch ganz verschieden waren von jenem Kuß, den der große Schmetterling der Braut von ihrem Bräutigam brachte. Denn während dieser voller Bedeutung war und den Bund fürs Leben besiegelte, waren diese nur ein leichtes und flatterhaftes Spiel, ein Flirt voller Süßigkeit für den Augenblick, doch im Grunde ohne Dauer, vorübergehend. Während der große Schmetterling die Liebenden miteinander vereinte, teilten die kleineren unter den Gästen sozusagen allerhand Näschereien und Erquickungen aus. Daher kam es, daß die Schmetterlinge, von dem kommenden Morgen träumend, auch nach Sonnenuntergang noch nicht schliefen, sondern mit erhobenen Schwingen an den Blättern der Spindelbäume und der Haselnußstauden, an den schlanken Stengeln der Blumen, an den Knorren der dürren Äste, die auf dem grauen und grünen Moos hingebettet lagen, hingen. Mittlerweile machten sich die Abendwinde viel zu schaffen. Als die Ceremonienmeister der bevorstehenden Feierlichkeit glitten sie über die Wiese, ganz nahe bei der Erde dahin, hüpften, tanzten, luden die Gäste zur Hochzeit, rüsteten den Hochzeitszug. Mit den Einladungen gab es nicht wenig Scherereien. Es waren eine Menge Freunde, Verwandte und Bekannte, doch waren nicht alle gleich wert und achtbar. Es galt zu entscheiden, wen man zum Hochzeitszug und wen man zum Schmaus einladen sollte. Daß man nur ja keinen übersah, keinen beleidigte, andererseits aber auch keinen überflüssigerweise einlud, denn auf der Wiese gab es gemeines Volk in Menge, und es hätte leicht vorkommen können, daß einer von den Niedrigstehenden, einer, der nicht genügend wohlgeboren und wohlerzogen war, beispielsweise die ungeschlachte Klette, das schmutzige Ziegenkraut oder die grobe Distel sich in diese erlesene Gesellschaft einschlich.
Um diese Aufgabe zur Zufriedenheit aller zu lösen, durfte man keine Mühe, Schlauheit und Diplomatie sparen. Doch die Winde, die Ceremonienmeister der Wiese, waren dazu wie geschaffen. Für sie gab es keine angenehmere Beschäftigung, als in der Welt umherschweifen, flüstern, tuscheln, bereden, trennen, verbinden. Auch diesmal wußten sie sich trefflich zu helfen. Kaum war eine halbe Stunde vorüber, die Sonne war noch nicht ganz verschwunden, und schon war alles aufs beste geordnet und in die richtigen Bahnen geleitet. Da waren zunächst die Ehrenjungfrauen und Ehrenkavaliere des Brautpaares. Der Braut würden die beiden nächst ihr schönsten Töchter der Wiese zugetheilt, nämlich gallium mollugo, dem hehren Geschlechte der Rosen verwandt, gekleidet in das schönste weiße Spitzengewand der Welt; und epilobia grandiflora, mit ihrer geschmeidigen Figur, ganz übersäet mit Sternen, wie rein ciselierte Amethyste anzusehen. Dem Bräutigam wurden zugesellt einer mit einem Busch amarantroter Kelche, den der Pöbel freilich nur Siegwurz nennt, den aber die Gelehrten gladiolus heißen, und dann geranium, einer der Reichsten auf der Wiese. Diesen überhäufte nämlich die Mutter Natur, sobald nur seine Zeit gekommen war, mit einer solchen Menge Lilaspitzen, daß er mit ihnen alle jene seiner Genossen beschämen konnte, die man in so übertriebener Weise Holunder nannte.
Außer diesen zwei Paaren wurde nach gründlicher Beratung noch eines zum Ehrendienst um die Neuvermählten geladen. Das war freilich überflüssig, geschah aber aus höheren Rücksichten. Zum dritten Ehrenkavalier wurde also das Sonnenröschen bestallt. Das war allerdings weder ein Freund noch ein Verwandter, überdies klein von Wuchs, etwas krumm und nur mit einem Auge.
Das Auge war freilich hübsch, gelb wie Safran, aber immerhin nur eines. Doch was war zu machen, da das Sonnenröschen trotz seiner Gebrechen nun einmal der Liebling der Sonne war, was schön daraus hervorgeht, daß ihm die Gelehrten, die es doch am besten wissen mußten, den Namen helianthemum beilegten, was von helios kommt, welches Wort in irgend einer der menschlichen Sprachen Sonne bedeutet. Warum diese Gunst einem solchen unansehnlichen und mittelmäßigen Geschöpf zuteil geworden war? Wer mochte dies wissen. Wahrscheinlich dank den Schmeicheleien. Denn das Sonnenröschen besitzt die seltene Fähigkeit, schön zu tun und sich untertänig zu stellen. Gewöhnlich, sobald das herrliche Tagesgestirn aufgeht, kaum daß das Sonnenröschen den Schlaf von sich abgeschüttelt hat, wendet es ihm sein einziges, safrangelbes Auge zu, sperrt es weit auf, daß es ganz rund und flach wird, heftet es unverwandt auf das Antlitz der Sonne und fortab starrt es sie an den ganzen lieben Tag. Wohin immer die Sonne sich wendet, folgt ihr das Röschen unermüdlich, gegen Mittag, wenn die Sonne am höchsten steht, blickt es hinauf, gegen Abend neigt es sich von der Höhe seines Stengels nach Westen. Ein wahres Wunder, daß es bei diesen höfischen Verbeugungen noch das Genick nicht gebrochen hat. Aber nein. Es reckt hochmütig den Nacken und faßt sich in wenig sympathischer Überhebung mit den dünnen Zweiflern bei den Seiten. Weiß es sich ja in der Gunst der mächtigsten Herrin ... Man mußte es also laden und noch dazu ihm ein Ehrenamt übertragen, denn es konnte sonst Zwietracht stiften und irgend ein Unglück, eine Dürre zum Beispiel, oder einen Hagel aus jenen Höhen herabbeschwören, denen es in einemfort sein Auge zuwendet.
Und da dieser hochmütige Schmeichler nun einmal geladen wurde, dürfte man ihm zum Paar nicht etwa das erste beste Blümlein geben, damit er nicht aus verletztem Stolz sich bei seiner Beschützerin beklage. Seine Begleiterin sollte calla palustris sein, welche abseits stehend, zwischen einem Haufen gemeiner Gräser ihren schneeweißen Kelch emporstreckte.
Als Gäste wurden nur wenige Familien eingeladen, aber es waren die verbreitetsten und angesehensten, nämlich alle die vom Klee, ferner die Schwertlilien, die Vergißmeinnicht, die Ehrenpreise mit allen Ästen ihres weitverzweigten Stammbaumes. Das kostete freilich wieder ein wenig Mühe, denn die Ehrenpreise, nämlich einige von ihnen, die von der Wiese, führten seit langem den wütenden Streit mit den Vergißmeinnicht über die Schönheit der Augen, welche bei den Ehrenpreisen von der Wiese bedeutend größer, dagegen bei den Vergißmeinnicht von tieferem und reinerem Blau waren und an den Himmel weit lebhafter gemahnten. Als nun die Wiesenehrenpreise von der Auszeichnung erfuhren, welche den Vergißmeinnicht zuteil werden sollte, nahmen sie zunächst die Einladung mit saurer Miene auf, schützten Unwohlsein infolge der ungewöhnlichen heurigen Kälte vor und verweigerten ihre Teilnahme an der Hochzeitsfeierlichkeit. Doch die schalkhaften Winde fingen an, so begeistert das wundervolle Blau ihrer Augen zu loben und sie so hoch über die ihrer Nebenbuhlerinnen zu erheben, daß die schlimmen Neiderinnen weich wurden und schließlich versprachen, nicht nur auf der Hochzeit zu sein, sondern auch den Hochzeitsteppich mit schönen Arabesken, bestehend aus ihren eigenen blauen Augen, zu schmücken.
Denn ein Hochzeitsteppich mußte natürlich sein, und sogar ein prächtiger. In dem bestimmten Moment sollte ihn der Gundermann ausbreiten und auf das schwellende Grün seiner an der Erde sich krümmenden Ranken sollten die Winde ganze Haufen ihrer weißen Knospen hinstreuen, und die Schote und verschiedene Milchblumen darüber verschiedenfarbige Streifen entfalten. Diesen Teppich sollten andere, von den Winden bestellte Gäste mit mannigfachen schönen Ornamenten zieren. Das Zittergras sollte die Menge seiner feingeschnitzten Glöckchen, die an seinem Wipfel hängen, schütteln, die Pimpinellen und Karotten Hunderte ihrer milchweißen Baldachine entfalten, und die Ranunkeln ihre Lämpchen anzünden, die nicht etwa mit Öl oder gar mit Petroleum, sondern mit reinem Golde gefüllt sind.
Doch damit waren die Vorbereitungen und all die Herrlichkeiten noch nicht zu Ende. In dem Gefolge des Brautpaares mußte sich eine besondere Truppe befinden, deren Aufgabe es war, über die ganze Wiese, die sich in einen prächtigen Tempel verwandelte, eine Fülle von wonnigen Düften zu verbreiten, die so frisch waren, wie die Unschuld der Felder und der Wiesen, und so sanft berauschend, wie echter, durch kein Gift verfälschter Wein. Hierin waren am geschicktesten das schlichte und bescheidene Riechgras, ferner zwei Schwestern Minze, silvestris und arvensis, und auch der Thymian, welcher jedoch, da er nicht direkt auf der Wiese, sondern am Abhang des Hügels wuchs — einem Polster ähnlich, welcher über und über mit Amethysten bestreut ist — anfangs verdrießliche Miene machte und sich weigerte, mit von der Partie zu sein.
»Ich will nicht,« sprach er. »Ich habe meine Düfte nicht für die Blumen der Wiesen. Was gehen mich euere Hochzeiten an? Ich bin von Feld und Wald. Wenn die Kornblume den Rittersporn heiraten wird, dann ...«
Die Winde stutzten. Was war zu machen? Sollte man des kräftigsten und angenehmsten Parfüms entbehren? Nein. Es mußte ein Mittel gefunden werden wider die Laune des Thymian. Sie waren nicht so leicht aus der Fassung zu bringen. Nach einer Weile sagten sie zum Thymian: »Möchtest du dir nicht einmal mit ansehen, wie Raketen aus Flaum in die Luft fliegen?«
»Flaumraketen! Was ist das? Das muß wohl etwas ganz besonderes sein. Möchtet ihr das nicht naher erklären?«
Jene gaben die gewünschte Erklärung.
»Ist dir der Löwenzahn bekannt?«
»Gewiß, gewiß, ganz ordinäres und häßliches Geschöpf.«
»Häßlich, nur nicht zu dieser Jahreszeit. Schon seit einigen Tagen hat er seine, in der Tat ordinären, schmutziggelben Blätter vom Kopfe geschüttelt und dagegen wunderschöne, durchsichtige Kugeln erhalten, aus ungewöhnlich feinem Flaum bestehend. Mutter Natur besitzt eine Menge schönerer und glänzenderer Kleinodien in ihrem Schatz, aber sicher keines, welches feiner gearbeitet wäre. Wenn nun du, Thymian, also dich bereit erklärst, in dem vereinbarten Augenblick deine Rauchfässer zu schwingen, werden wir es so einrichten, daß gleichzeitig die Kugeln des Löwenzahn platzen und der Flaum in Milliarden von Krystallen durch die Luft schießend, den Hochzeitsteppich bedecken wird.«
Der launenhafte Thymian überlegte sich die Sache ein wenig, dann rief er: »Gut also. Da ihr uns für unsere Parfüms solch’ ein Schauspiel bietet — sei’s d’rum. Wir wollen aus ganzer Kraft unsere Rauchfässer schwingen. Aber merkt’s euch wohl, umsonst gibt’s nichts. Die Raketen müssen schon sein und in großer Anzahl.«
»Zu Tausenden!« Die Winde sausten zufrieden davon.
Endlich war alles geordnet, zugerichtet, vorbereitet, wie es schien aufs beste und schönste, als auf einmal, ganz unvermutet, nachdem die Sonne am Himmelsrande verschwunden war, beim Lichte des Abendrots, welches wie eine feurige Lohe durch das dünne Gehölz hindurchschimmerte, ein lauter Streit entbrannte, ein förmlicher Skandal. Die Ranunkeln erklärten entschieden, daß sie gar nicht daran dächten, ihre Lämpchen anzuzünden. Sie hatten freilich im ersten Augenblick eingewilligt, am Ende hatten sie sich jedoch die Sache überlegt in der Erwägung, daß es für sie, die Sprossen des berühmten und weitverbreiteten Stammes ranunculus, sich nicht gezieme, als Dienende im Gefolge des Brautpaares, anstatt unter den Gästen sich zu befinden. Sie waren wohl gerne bereit zu erscheinen, doch nur als Gäste, ihre Lämpchen aber wollten sie hermetisch geschlossen halten und sie nicht auftun, und mochte es die Sonne selber befehlen. Das war eine schlimme Sache. Nun galt es neue Hindernisse zu überwinden. Überdies waren die Widerspenstigen gewöhnliche, aber ganz gewöhnliche Ranunkeln, die in der Familie sogar ein Mitglied hatten, welches sie alle mit Kummer und Schande bedeckte, nämlich die giftige Ranunkel, die man gewöhnlich Spitzbübin, auf Lateinisch ranunculus sceleratus nannte. Das war eine der bösartigsten und häßlichsten Schadenstifterinnen im Reiche der Blumen. Eine Giftmischerin. Und nun stand diese liebe Verwandte abseits, über und über gelb von Neid, rostbedeckt von den schwarzen Absichten, die sie hegte, schielte nach rechts und nach links und streckte ihre hornigen Stengel wie krumme Finger zu den Disteln aus, die ebenfalls ein recht ordinäres Gesindel, aber bedeutend ehrlicher waren. Sicherlich wollte sie diese Kumpane zu irgend einer unlauteren Tat bereden, während ihr unterdessen die mit Rost vermengte Galle durch alle Augen quoll. Was war das also für eine Anmaßung, wenn man selber zu dem gewöhnlichen Volk gerechnet wird und noch dazu solch einen Schädling in der Familie hat; sich unter die vornehmsten Gäste mischen zu wollen! Doch es half nichts. Die goldenen Lämpchen der Ranunkeln waren unentbehrlich. Man mußte also wieder zu diplomatischen Mitteln greifen.
Die Winde seufzten. »Schade,« sagten sie. »Wir haben vernommen, daß die weißen Schmetterlinge sich bereits einen Plan zurechtgelegt hatten, zwischen euch und den Ehrenpreisen mit den saphirblauen Augen Bekanntschaft zu stiften ... Sie dachten nämlich, euch mit ihnen zu verloben. Wenn eines an den Ehrenpreisen just keinen Gefallen fände; könnte man ja unter den entzückenden Vergißmeinnicht wählen ...«
Die Ranunkeln erhoben die Köpfe und flüsterten: »Die Ehrenpreise sind hübsch. Die Vergißmeinnicht sind entzückend. Verlobungen ... Na, ob man sich verlobt oder nicht, ein wenig Flirt könnte keineswegs schaden.«
»Ach ja, der Flirt ist eine recht angenehme Sache,« unterbrachen die Winde. »Aber ihr werdet wohl dazu nicht kommen. Umsonst bekommt man keine Süßigkeiten. Und wenn ihr eure Lämpchen nicht anzündet, wird nichts daraus.«
»Ach nein, ach nein,« riefen die Ranunkeln »bitte, bitte, tut das nicht, raubet uns nicht das angenehmste Vergnügen. Wir sind bereit, alle unsere Lämpchen anzuzünden und sie mit dem reinsten Golde zu füllen, seid schon gut.«
»Seht ihr’s wohl ein!« riefen die Winde stolz. »Man soll sich niemals in Eitelkeit blähen, denn während man dem Ruhme nachjagd, entgeht einem das Glück. Wir verzeihen euch die kindische Widerspenstigkeit, zählen mit Sicherheit auf euere Lämpchen und wollen das den Schmetterlingen verkünden.«
Nachdem sie auf diese Weise den letzten Streit an jenem Abend beigelegt hatten, begaben sich die Winde zur Ruhe, ohne im geringsten darauf zu achten, daß der ranunculus sceleratus noch immer mit den Disteln sein boshaftes Geflüster führte, noch auf das sarkastische und spöttische Gelächter, welches mannigfach aus der Mitte des niederen Volkes, das von der morgigen Feierlichkeit völlig ferngehalten würde und aus solchen Familien bestand, wie die untersetzten Kapuzinerpilze, die ungehobelten Bärendisteln, der steife Beifuß, der Vogelknöterich, von dem es überall voll ist, die Wolfsmilch, der Sauerampfer, das Tollkraut, die Melde und ähnliche. Das war lauter Pöbel. Heute murrte das wohl, stellte sich über das Geringste beleidigt, aber morgen, beim Anblick der Feierlichkeit, würde es die Augen weit aufreißen und mit allen seinen plumpen Händen Beifall klatschen. Die Plebs beneidet wohl die Patrizier, aber beim ersten Zusammentreffen mit ihnen zerfließt sie wie Honig und warme Milch.
Zufrieden mit ihrem Werke, doch erschöpft, betteten sich die Winde auf dem weichen Gras dicht bei der Erde, schliefen sofort fest ein und wurden so still, daß man meinen konnte, sie wären gar nicht vorhanden auf der Welt. Doch außer ihnen genoß keiner eines ruhigen Schlafes in dieser Nacht. Die Vögel machten nur ein Auge zu und öffneten das andere jeden Augenblick, um zu sehen, ob es schon tagte, unter den Schmetterlingen ließ sich jedesmal ein Flügelgeräusch vernehmen, und die Blumen erst ... ach, diese schüttelten von Zeit zu Zeit ihre schläfrigen Köpfchen, bewegten die Blätter und seufzten jedesmal unter dem Schutze der Dunkelheit, so wie man nur aus einer von Sehnsucht und Hoffnung überquellenden Brust seufzt. Wie viele Hoffnungen erweckte der morgende Tag!
Komm, ach komm doch nur geschwind, o schöner Morgen, geliebter Morgen, mit deinen Gesängen, deinen strahlenden Lichtern, deinem prächtigen Schmuck, deinem beseligenden Wetteifer, deinen süßen Küssen ... Tag der Freude, der Liebe und der Glückseligkeit, o komme bald zu uns! Er kam. Sein Nahen verkündeten zunächst bleiche Traumgebilde, die gespensterhaft durch die Dunkelheit irrten und zerschwammen. Es war Licht und doch kein Licht, etwas Vermittelndes zwischen Schwarz und Weiß, graue, lange Fransen, welche wirr vom Himmel herunterhingen, huschten umher zwischen den Bäumen, deren Umrisse sich jetzt schwach abhoben, während die verhüllten Sterne am Himmel immer blasser wurden und verschwanden. Das waren die ersten leisen, matten Herolde der Sonne, die immer größer wurde, von einem bläulichen Weiß durchleuchtet, welches sie umfing und langsam aufsog, während die blasse, durchsichtige Morgendämmerung die Erde mit ihrem gleichmäßigen Licht überflutete. Alles, was auf der Erde wuchs und lebte, verharrte wie gebannt in diesem Lichtscheine, nur droben in den Höhen huschten schweigende Schatten und neblige Gebilde dahin, immer höher und höher schwebend, und verschwanden allmählich, gleich einem sich zusammenfaltenden Mantel, und über den die kleine Wiese umringenden Anhöhen erglänzte endlich die Himmelswölbung, noch blaß, aber klar und rein, ohne ein funkelndes Sternchen und von keinem Nebelstäubchen getrübt.
Die ersten, welche erwachten, waren die Winde. Als Ceremonienmeistern bei der Feierlichkeit lag es ihnen ob, die Ordnung zu überwachen. Doch, müde und träge, erhoben sie sich nicht sogleich, sondern wälzten sich einigemale gähnend auf ihrem Lager. Doch das genügte, um die Braut aufzuwecken, welche erbebte, ihre Blättchen schüttelte, ihr im Schlaf gesenktes Köpfchen erhob und die Rosenäuglein sofort auftat. So pflegen die aus dem Schlaf zu erwachen, denen der junge Tag großen Schmerz oder große Freude bringt. Die malva alcea wurde sofort beim Erwachen von einem Freudenstrahl durchzuckt, denn ihr gegenüber stand, prangend in voller Schönheit, schlank und geschmeidig, der Erwählte ihres Herzens und hatte alle seine klaren Augen auf sie geheftet. Er hatte nicht zu erwachen gebraucht, denn er war nicht eingeschlafen. Aber kaum war seine Geliebte erwacht, als sich schon seine lanzettenförmigen Blätter zu ihr ausstreckten, und während sich sein Haupt in einer Verbeugung voll ritterlicher und zärtlicher Galanterie senkte, flüsterte er: »Guten Morgen, mein Liebling!«
Sie aber antwortete nicht ihre Wimpern bebten nur und die Blätter, wie die Hände einer bescheidenen Jungfrau, falteten sich zusammen. An ihrer Stelle antwortete ihm eine ältliche, etwas heisere Stimme: »Guten Morgen, lieber Schwiegersohn! Ich will hoffen, daß ich an Dir keine Enttäuschung erleben werde, daß Du meine Tochter nicht tyrannisieren und mich nicht zwingen wirst, die Zahl der sogenannten bösen Schwiegermütter um eine zu vermehren.«
Die das sprach, war die Mutter der Braut, eine etwas ältliche, weil bereits zweijährige Malve mit untersetzter Figur und verblaßten Augen, die nur hie und da noch ihre dickgewordenen Glieder zierten.
»Guten Morgen, liebe Freundin!« grüßen mit jungen frischen Stimmen die Brautjungfern, epilobia grandiflora und gallium, die Braut. »Wie hast Du diese Nacht geschlafen? Scheint nicht besonders gut, denn Deine Augen sind blaß und die Hautfarbe nicht frisch.«
Sie logen. Die Braut sah frisch und bezaubernd aus, nur jene wollten sie aus Neid kränken und einschüchtern, während sie zum Scheine taten, als freuten sie sich über ihr Glück.
Die Ehrekavaliere des Bräutigams waren aufrichtiger und herzlicher. Das Glück des Freundes neideten sie ihm nicht, vielleicht weil es in ihrer Macht lag, sich davon zu verschaffen, so viel sie wollten. Der gladiolus legte seine Amarantglöckchen an den Kopf des Bräutigams und flüsterte ihm von süßen, fröhlichen Hoffnungen, und geranium schüttelte munter seine unzähligen, lilienweißen Spitzen aus Freude über das Glück seines Freundes, während er zum gallium schmachtend hinüberlächelte, welches inzwischen sein schönes Kleidchen weit ausbreitete, daß die Schleppe eine Menge Gräser bedeckte und den Klee, die Vergißmeinnicht und die Ehrenpreise berührte, welche davon erwachten und flüsterten: »Schon? Ist es schon Tag? Wird die Hochzeit bald sein? Ist die Sonne schon erschienen?«
Als Antwort erscholl der brausende Ruf der Winde: »Das Morgenrot! Das Morgenrot! Das Morgenrot!«
Diese Siebenschläfer hatten sich endlich aufgerafft, schwangen sich empor, sausten hin und her und raunten: »Steht auf! Zieht euere Festgewänder an! Haltet euch bereit! Geschwind! Geschwind! Nicht gezögert! Das Morgenrot kommt, das Morgenrot kommt!«
Dies flüsternd, flogen sie hurtig, mit einem Wehen, so frisch, wie der Sommermorgen, nach dem Walde, und sofort ließ sich das Knistern geschüttelter Zweige vernehmen, das Flattern sich regender Schwingen, und ein kurzes, noch schläfriges Zwitschern einer Menge von Stimmchen: »Was? was? was? Ist der Mooorgen schon da? Ohoho! Wie hell ist es in der Welt! Hell! So hell! Fiu, fiu, fiuu! Wir haben verschlaaafen. Laßt uns aufstehen, aufstehen, aufstehen!«
Dort wo die Hügel auseinandertraten und ein Tor auf die Felder und den Feldweg eröffneten, sah man den fernen, fernen Himmel, und auf dem Himmel, der blaß und weiß war, erschien zuerst ein schmaler, blaßroter Streifen, der immer breiter wurde und sich tiefer färbte, bis er aussah, wie aus lauter Rosenblättern bestehend.
Jetzt entstand in dem Tal zwischen den mit dünnem Föhrengehölz bestandenen Hügeln eine Bewegung und ein lebhaftes Treiben. An allen Bäumen und Büschen erglänzen unzählige kleine Vogelaugenpaare, viele befiederte Köpfchen wandten sich nach allen Seiten um und viele bewegliche Schnäbelchen ließen kurze, in allen Tonarten sich wiederholende Laute vernehmen, die klangen, wie wenn viele Instrumente auf einmal gestimmt werden. Die Kapelle der Waldsänger probierte das herrliche Hochzeitslied, welches bald, bald erklingen sollte. Von dem höchsten Punkte des höchsten Baumes im Walde ließ der Kuckuck ein lautes Triumphgeschrei ertönen: »Sie geht, sie geht! Sie ist schon nahe, schon nahe!«
Aus großer Freude stimmte er ein tolles Lachen an: »Kokokokoko! Kuku!«
Und sofort wußten alle, wer es war, der ging und immer näher kam. Es war die Königin, die Herrscherin, die Lichtspenderin, die Ernährerin und Wohltäterin alles dessen, was da lebte, die Sonne.
Erst jetzt erwachte der dritte Ehrenkavalier, das Sonnenröschen, schüttelte sich, gähnte, machte sein großes gelbes Auge auf und wandte es gegen Osten, während er mit Unruhe des echten Höflings flüsterte: »Die Sonne! Schon? Wo ist sie denn? Ich sehe sie nicht. Aber die schöne Aurora ist schon erschienen. Sei mir gegrüßt, Du schöne Aurora, Du erste unter den Ehrendamen unserer Königin, und sage mir, ob sie gesund und heiter ihr Lager verlassen hat. Und Du selber, Aurora, wie schön und blühend Du aussiehst! Wenn ich Dich ansehe.
Und so weiter, und so weiter. Der unermüdliche Schmeichler erschöpfte sich in Bücklingen und höfischen Komplimenten, und merkte nicht, daß seine schöne Dame, die calla, hinter einem Busch von Grashalmen schon ihren weißen Kelch ausstreckte, indes die Ehrenpreise, ihrem Versprechen getreu, rasch eine saphirblaue Arabeske über den Hochzeitsteppich hinwarfen, den der Gundermann zu den Füßen des Brautpaares ausbreitete, während die Winde ihre Rosenkelche und die Schote ihre bunten Streifen über ihn ausstreuten. Auch das gemeine Volk war inzwischen erwacht und riß weit die Augen auf und fing an, sich drängend und stoßend, die Vorbereitung zu der Festlichkeit anzustaunen. Doch die beiden Helden des Tages, denen zuliebe allein all der frohe Lärm stattfand, schienen nichts von dem, was vorging, zu merken, sie vergaßen sogar die Herrlichkeit ihrer Abstammung und ihren hohen Rang in der Welt. Hätte man dem Nachtlicht gesagt, es werde eine Distel werden, es hätte wohl zur Antwort gegeben: »Gut, wenn ich nur das Herz der Malve weiterhin besitze«; und die Malve würde keinen Augenklick gezögert haben, sich in einen Kapuzinerpilz zu verwandeln, wenn sie nur sicher gewesen wäre, die Liebe ihres Erkorenen nicht zu verlieren. Seine hellen goldenen Augen hingen an ihren Wimpern, an deren immer tiefer werdendem Rosarot Feuchtigkeit emporzuquellen anfing. Als die Umstehenden das junge Paar sahen, das so zärtlich in einander verliebt war, verspürten sie ebenfalls Tränen in den Augen. Alle Vergißmeinnicht und Ehrenpreise, alle Kelche des gladiolus, alle Spitzen des geranium, alle Sternchen der epilobia bedeckten sich reichlich mit zitternden Tropfen, zitternde Tropfen erschienen an dem schneeweißen Becher der calla, und das Spitzenkleid des gallium wurde von ihnen beinahe ganz feucht. Sogar das niedere Volk fing an zu weinen. Der Sauerampfer, auch sonst zum Weinen geneigt, überfloß von Tränen, die Wolfsmilch ließ vor grosser Rührung das nasse Haupt auf die Brust eines untersetzten Pilzes sinken. Sogar der ranunculus sceleratus weinte zusammen mit den Disteln, seinen Kumpanen, aber die taten es aus Wut. Nur das Sonnenröschen dachte nicht daran, zu weinen. Klein, etwas krumm, wie es war, stemmte es sich keck in die Seiten, heftete sein einziges, gelbes Auge auf das Morgenrot und erwartete die Sonne.
Es brauchte nicht lange zu warten. Das Morgenrot breitete seine Rosenfinger weit über den Himmel aus und in diesem Augenblick ließ der Kuckuck auf dem Wipfel des Baumes einen Schrei ertönen: »Ku ...!« und brach ab.
Vor Freude und festlicher Rührung stockte seine Stimme in der Kehle. Dann — geschah etwas; was keine Sprache zu schildern und keine Feder zu beschreiben vermag. Es war dies ein ungeheueres Brio von Tönen, Farben, Düften und einem Glanz, in dem alles untertauchte, strahlte; duftete und sang ...
Über dem Rand des Morgenrots zeigte die Sonne ihre goldene Stirn und sandte in die Welt hinaus eine Fülle von Strahlen, die sich in den Tränen der Blumen spiegelten und sie in Perlen und Brillanten verwandelten. Da aber die Blumen vor freudiger und zärtlicher Rührung über und über mit Tränen bedeckt waren, so gab es ein Leuchten und Funkeln und Schillern, als hätte man die märchenhaften Schätze von Golkonda über den Teppich zu den Füßen des Brautpaares hingestreut. Sofort wölbten die Pimpinellen und Karotten, so hoch sie konnten, Ihre weißen Baldachine; die auf silbernen Stäbchen ausgespannt waren, die Ranunkeln erhellten ihre zahllosen goldenen Lämpchen, das Zittergras ließ seine krystallhellen Glöckchen erklingen, das Riechgras, die beiden Schwestern Minze, der Thymian am Rande des Waldes fingen an, ihre Rauchfässer aus ganzer Kraft zu schwingen und verbreiteten süße und berauschende Düfte. In diese Düfte hinein, durch die von der Sonne immer mehr erhitzte Luft ertönten die Klänge der Kapelle, welche vom Waldessaum her eine lautschallende, sehr komplizierte und tiefe, aber zugleich lyrische und herzergreifende Musik herübersandte. Das war das Hochzeitslied, dessen Hauptmotiv von dem größten Tonsetzer im Reiche der Vögel, von der Nachtigall selber, herrührte und von dem Stieglitz und dem Zeisig kunstvoll entwickelt wurde, während der Wiedehopf und die Taube mit ihren tiefen Baßtönen: »Hu—hu! hu—hu!« jedesmal einfielen, der Fink in die Kastagnetten schlug und die Amsel solche feine und reine Flageolettöne ausführte, daß so mancher Meister der Violine sie beneidet hatte. Diese rauschende Musik, die in einer unermeßlichen Fülle von Trillern, Akkorden und Passagen über die Wiese dahinfloß, mit der bezaubernden Melodie als Grundton, erschütterte so sehr die Nerven des Löwenzahns, daß so mancher von dieser Familie den richtigen Moment nicht abwartete und die Raketen von leichtem Flaum in die Luft emporschleuderte. Als der Thymian dies sah, fing er an, sein amethystblaues Rauchfaß noch kräftiger zu schwingen, während die Winde, aus Freude darüber, daß alles so schön gelungen war, flotte Solotänze in den Lüften aufzuführen begannen. Doch unterbrachen sie das Spiel sofort und hielten wie gebannt inne, trotz ihres ganzen Leichtsinns von dem Ernst des Augenblicks gebannt. Denn siehe, vom Walde her, mitten durch die dünngepflanzten Föhren, kam der große Schmetterling herbeigesegelt, die mit Purpur gesprenkelten Flügel weit ausbreitend und in schwerem, ernstem Flug in der Luft sich wiegend. Er flog zu dem Brautpaar, zu dem Bräutigam zunächt, der alle seine klaren, großen Augen dem Schmetterling zuwandte und jetzt aussah wie ein Ritter ohne Furcht und Tadel, dem es vor nichts in der Welt bangt, weil er weiß, was er will und nur von den edelsten, reinsten Absichten beseelt ist. Die Braut fing an, an allen Blättern zu beben und in ihren Rosenaugen leuchteten Tränen, während ihre Mutter, die bejahrte Malve, so laut und erschütternd zu schluchzen begann, daß alle, die Brautjungfern und die Ehrenkavaliere, die Gäste und das gemeine Volk sogar, in Tränen ausbrachen, daß die ganze Wiese wie von Brillanten erglänzte. Die Musik hallte immer lauter und ergreifender, der Löwezahn hatte bereits alle seine Raketen in die Luft geschossen, die Lämpchen der Ranunkeln leuchteten förmlich blendend, die Düfte wurden immer süßer und berauschender, und der große Schmetterling schwebte durch die Luft, langsam, schwer, schwebte zu dem Brautpaare hin, gefolgt von einem beweglichen, kreisenden Schwarm kleinerer Schmetterlinge, leichter, gelber, blauer, weißer Genossen ...
Jetzt geschah etwas ... Schreckliches.
Der Kuckuck, welcher von der Spitze des Baumes der Feierlichkeit zusah und zugleich in die Welt hinauslugte, schrie plötzlich mit entsetzter Stimme: Ku! ....«
Und gleich brach er ab. Vor Angst und Schrecken stockte sein Atem in der Brust. Er bot jedoch seine ganze Kraft auf und fing an schreien mit einer Macht, daß er die ganze Kapelle übertönte, mit einem solchen Entsetzen, daß alles, was lebte, erschrak, ohne Takt und Rhythmus, wie rasend: »Kukukukukuku! ...«
»Was? was?« schrien alle Blumen und Winde auf einmal, die Schmetterlingschar blieb reglos in der Luft hängen und nur die Musikanten, welche in ihrem Eifer alles überhörten, musicierten weiter.
Der Kuckuck schrie von seinem erhöhten Standort: »Der Tod geht! Der Tod geht! Der Tod geht!«
Der Tod? Was für ein Tod? Was ist das Tod? Wozu? Für wen? Warum? Zur Hochzeitsfeier kommt der Tod? Kommt jetzt, in diesem Augenblick, da es in der Welt so hell, so schön, so fröhlich, so selig ist? Das kann nicht sein. Das ist eine falsche Nachricht. Der Kuckuck lügt! Nieder mit ihm! Er hat die Freude gestört, er hat sein Amt mißbraucht, das schöne Spiel verdorben! Nieder mit ihm!
Jetzt hallte durch die Wiese ein giftiges, höhnisches Lachen, das beinahe satanisch klang und von den mit dem Rost des Neides befleckten Lippen des ranunculus sceleratus kam, der alle seine krummen Finger nach der Öffnung des Tales ausstreckte, wie auf etwas weisend, was keiner bemerkte. Er allein sah das, was der Kuckuck ankündigte, er wußte, daß er bald sterben mußte, aber er lachte aus höllischer Freude, daß mit ihm zugleich alle die Anderen sterben müßten, die es gut in der Welt hatten und die er darob haßte. Während er auf die Öffnung hinwies, rief er mit einer vom Gelächter unterbrochenen Stimme:
»Seht! Dorthin seht! Cha, cha, cha! Das sind euere Liebeshändel und Hochzeiten. Dauerhaft, sicher, ewig, nicht wahr? Das sind euere Mühen, Bestrebungen, Kämpfe und Streitigkeiten, du ist das Ende euerer Freuden, eueres Jauchzens und Frohlockens. Bums, und hin ist es! Bums, und alles ist vorbei! Cha, cha, cha!«
Alles, was in wunderbaren Farben auf der Wiese blühte, im Brillantenschmuck leuchtete, seine kunstvollen Spitzengewebe entfaltete, alles, was duftete, liebte, sich des Lebens freute, wandte die Blicke nach der angegebenen Richtung und flüsterte mit ersterbenden Lippen: »Der Tod!«
In der Öffnung des Tals, welche sich wie ein Tor auf die Felder und Stege auftat, stand ein Bauer im weißen Hemde, mit nackten Füßen, und über der zerknüllten Mütze, welche seinen Kopf bedeckte, hoch oben in der Luft blinkte mit scharfem und kaltem Strahl eine Sense.
— — — — — — — — — — —


Einige Minuten später war von all den Gesängen der Vogelkapelle kein Ton mehr in der Luft geblieben. Tiefes Schweigen herrschte. Nur der Kuckuck ließ weit, weit oben in den Höhen wehmütige Töne vernehmen. Die Winde umarmten das Waldmoos und schluchzten leise. Und im Tal, zwischen den Hügeln, mitten in dem tiefen Schweigen der Luft und der Erde, klang nur noch die Sense allein dumpf und düster: »Tschach—tschach. Tschach—tschach!«


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Dienstag, 5. Oktober 2010

Johanna Siebel - Vom Seegestade

Franz von Stuck - Wind und Welle (unvollendet)
Vom Seegestade.

»Ich habe dich lieb,« sagte die blinkende Welle zum harten Stein und leckte kosend und goldig in unermüdlich zärtlichem Werben an ihn heran.
»Ich aber mag dich nicht,« erwiderte der graue Felsblock grob und schüttelte unwirsch immer wieder das werbende im Sonnenlichte zuckende, Garben schießende Wellengeriesel ab.
Da sprühte die Welle ihr blinkendes Wasser drohend und übermütig zugleich im himmli-schen Strahlenschein und raffte gekränkt ihr milchweißes Mäntelchen zusammen: »Grober Block,« zürnte sie, »deine Sprache verletzt mich; ich werde mich rächen. Und hing ich anhin aus Liebe mein fürstlich Geschmeid um dein graues Gestein, so tu’ ich’s fürder aus Haß; mein Haß aber wird dich zerstören.«
Und in tosendem Jauchzen klatschte die Welle ihre zornfunkelnden Wasser mit dem sprühenden Gischt gegen und über den Stein und leckte und nagte und nagte und leckte in rastlosem Tun an seinem starren Gebilde. Der Stein wehrte sich.
Jahre kamen, Jahre vergingen; da wurde er müde und mürbe vom vergeblichen Kampfe und zerfiel.
Die strahlende Welle aber spielte weiter im goldenen Lichte der Sonne. - -
Aus: Johanna Siebel, Parabeln und Gedichte, Verlag von Josef Singer, Straßburg, 1906
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Sonntag, 12. September 2010

Johanna Siebel - Einmal klopfte das Glück an ihr Fenster (Parabel)

Edgar Germain Hilaire Degas - Tänzerin mit Blumenstrauß
Einmal klopfte das Glück an ihr Fenster und schaute sie an mit tiefen strahlenden Augen und der holde Mund lächelte in süßer geheimnisvoller Verheißung und die schlanken Hände winkten. Winkten ihr, die in einem lichtlosen Winkel saß und mit großen staunenden Blicken das Wunder anstarrte, das Glück, das bei ihr Einlaß begehrte.
Da aber ihre Seele vom dumpfen Druck langer Jahre stumpf geworden und ihr Geist sich zerrieben im quälenden Warten der leeren Zeit, so dauerte es eine kleine Weile, bis die sonnenentwöhnten Sinne das hohe Wunder zu fassen vermochten. Und wie ihrem blöden ungläubigen Verstande das Verstehen dämmerte, daß dort, an ihrer armen Kammer das Glück bereit stehe für sie, und wie sie nun die geschlagenen Glieder scheu und mühsam aus dem dunkeln Winkel erhob und die Arme in einem plötzlich überheiß gewordenen Hunger der Lichterscheinung entgegendehnte, wie sie mit zitternden Händen den Riegel schob, um der heischenden Seligkeit Einlaß zu verschaffen, und mit einem wirren Entzücken stammelte: "Komm! komm! ich wartete auf Dich in Marter und Sehnsucht, ich darbte nach dir, so lange ich denke; die Not war groß!" siehe! da war das Glück verschwunden von dem Fenster, an welches es Einlaß begehrend gepocht.
Glück auf seinem goldenen strahlenden Siegeszuge ist nicht gewöhnt, auch nur eine kleine Zeit zu harren, bis man ihm aufmacht.

Aus: Johanna Siebel, Parabeln und Gedichte, Verlag von Josef Singer, Straßburg, 1906
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Freitag, 10. September 2010

Paula Dehmel - Vom Nacktspielen

August Malmström - Tanzende Feen


Gestern freute ich mich sehr. Förster Fröhlich kam mit Erich und Marie zu Besuch. Erst gabs Kaffee mit frischen Waffeln, dann spielten wir Versteck auf dem Hof und Brückenmännchen; das war lustig.

Nachher gingen wir auf die Wiese und machten Kränze aus Gänseblümchen und lange Ketten von Nußblättern; damit putzten wir unsre Haare und Kleider. Aber ich sagte: Wißt ihr was? das Spiel muß viel hübscher sein, wenn wir nackend sind. Und wir liefen hinter das Gartenhaus, wo uns niemand sehn konnte, und zogen uns aus.

Unsre Kränze hingen wir uns um den Hals und um die Schultern, und dann faßten wir uns an und gingen in der Sonne spazieren. Wir spielten alte Griechen. Erich war der Prinz Paris und sollte der Schönsten einen Apfel schenken. Er fand uns aber alle beide am schönsten und aß den Apfel selber auf; da mußten wir sehr lachen.

Plötzlich kam meine Mutter. Sie sah ganz erschrocken und zornig aus. Schämt ihr euch denn nicht, ihr großen Kinder, sagte sie; sofort zieht ihr euch wieder an!

Die kleine Marie fing an zu weinen, und wir suchten rasch unsre Kleider.

Ich war fast böse auf meine Mutter. So schrecklich unartig waren wir doch garnicht gewesen. Und geschämt hatte ich mich eigentlich auch nicht. Das tue ich blos wenn mich einer sehr lobt, oder wenn ich was Dummes gemacht habe.

Und Mutter fragt mich doch nie, ob ich mich schäme, wenn ich in der Badewanne sitze und sie mich abseift; und da bin ich doch auch nackt.

Und das Spiel war so lustig, und die Nußblätter sahen so grün und frisch aus auf unsrer weißen Haut. Blos ein bißchen bange war mir gewesen, ob ich die Schönste sei — ja, das ist wahr —

Ob Mutting vielleicht doch Recht gehabt hat? — —

aus: Paula Dehmel, Singinens Geschichten. Herausgegeben von Richard Dehmel, E. A. Seemanns Verlag, Leipzig, 1921 (pdf, ePub und html, sowie Digitalisat bei ngiyaw eBooks)

Ludwig Aurbacher - Ferien-Reise

Nicolai von Astudin - An der Sägemühle



Die Familie hatte beschlossen, die ersten September- Tage, welche im südlichen Bayern, ungeachtet des sonst rauhen Klima’s, gewöhnlich einen heitern, freundlichen Charakter annehmen, auf dem Lande und zwar im Gebirge zuzubringen. Man hatte die Gegend gewählt, welche in frühern Zeiten die Grafschaft Werdenfels geheißen, und die, wie wenige Landschaften, das Freundliche, Heimliche, Idyllische zugleich mit dem Grandiosen und Majestätischen der Natur vereiniget. In Garmisch, einem Orte, der, mitten im Thale wohl gelegen, die freie Räumlichkeit eines Dorfes und zugleich die Bequemlichkeit eines Städtchens darbietet, hatte ihnen ein Freund eine Wohnung besorgt, welche die zahlreiche Familie wohl aufnehmen konnte, dergestalt, daß die Frauen ihr Hauswesen selbst auf leichte und wohlfeile Weise zu besorgen vermochten. Man vermißte nur das Angewohnte, Zierliche des heimischen Herdes, nicht aber das Bequeme, Naturgemäße.
Die ersten zwei, drei Tage hatte man in jener süßen Betäubung, in jenem träumerischen Zustande verlebt, den der Städter jederzeit erfährt, wenn er nach langer Zeit wieder einmal auf das Land, mitten in die freie, frohe Natur versetzt wird. Die mannichfachen, bunten Gestalten, die nahen Berge, die üppigen Wälder und Fluren, die entfesselten Bäche, das saftige Wiesengrün, frische Luft, freie Bewegung, heitere Muße — lauter Schönheiten und Genüsse, die, wenn auch früher schon und öfter erfahren, doch wieder in der Erinnerung erblaßt und untergegangen sind, — sie wecken den tauben Sinn, die schlummernde Seele zu plötzlichem Entzücken auf; man lebt ein neues Leben; man fühlt sich durchweg erfrischt, umgewandelt, beseligt. Den Tag über ergeht man sich in der freien, schönen Natur, und zerstreut sich an ihren Zerstreuungen, an ihren mannichfaltigen Reizen, und den Abend — wenn nicht eine wohlthuende Müdigkeit bald zur Ruhe einlädt — verplaudert man in kurzweiligen Gesprächen über das, was man den Tag über gesehen, genossen hat; oder man verliert sich wohl auch in Erinnerungen an die Heimath, an die Freunde in der Ferne, die man so gern sich herbei wünschen möchte, um bei ihrer Theilnahme die Freuden der Natur und des Landlebens doppelt zu genießen.
Die Witterung änderte sich, es trat Regen ein. Bei Leuten, die bloß des Vergnügens und der Erholung wegen auf dem Lande sich aufhalten, ist dieser Umstand von Entscheidung; er veranlaßt sie, auf Zerstreuungen anderer Art zu sinnen, als welche die Natur und sonst wohl die Stadt darbieten, und nöthigt sie, durch Rückkehr auf sich selbst und in enger Beschlossenheit des Familienlebens angenehme Unterhaltung zu suchen.
Der Vater verwendete den Morgen zur Besorgung der nöthigsten Correspondenzen und Rechnungen; die Mutter gab sich in der Küche zu schaffen, und änderte Manches im Hause zu besserer Wohnlichkeit; die Großmutter stand ihr bei in dem Geschäfte, rathend und nachhelfend; die Tante beschäftigte sich mit den beiden Mädchen; der Großvater saß geruhig am Fenster oder erhob sich wohl auch, das Thun und Treiben der Leute zu beschauen; der Onkel endlich war, trotz des schlimmen Wetters, hinausgegangen, und trieb sich im Dorfe und im Freien umher mit den beiden Knaben.
Als die Familie gegen Mittag wieder vereinigt war (die Kinder spielten noch vor Tisch auf dem geräumigen Söller), da nahm der Vater das Wort, und sprach: »Der heutige unfreundliche Morgen hat uns alle gemahnt, daß wir bei unserm längern Landaufenthalte, wollen wir uns nicht mitunter der bösen Langweile bloß stellen, wohl noch auf andere Unterhaltung denken müssen, als welche uns die Natur gewähren kann; denn obgleich übrigens ein stilles, ruhiges Beisammenwohnen einer Familie, wie die unsrige, für sich schon behaglich und gemüthlich genug ist, so will doch auch der Geist seine angemessene Beschäftigung, und er findet sie zumeist in einer bestimmten Aufgabe und in einer freiwilligen Beschränkung innerhalb eines gegebenen Spielraums. Nun haben die Frauen, vor unserer Abreise, uns Männern die schwere Verbindlichkeit auferlegt, daß wir keine Bücher mitnehmen sollen in die ländliche Einsamkeit, und damit so recht den Nerv unsers geistigen Lebens durchschnitten; wogegen sie freilich aber auch das ungeheure Versprechen gethan und gehalten, daß sie keine Schachteln in den Wagen mitnehmen wollten, mit Zier- und anderm Unrath; was denn freilich ihnen große Resignation gekostet hat.«
Die Mutter unterbrach ihn, und bemerkte lächelnd: »die Uebereinkunft sey von beiden Seiten mit gleich schweren Opfern geschehen, da der Männer Lectüre doch auch gewöhnlich nur als solcher Zier- und Unrath anzusehen sey.«
»Um nun die freiwillige Einbuße dieses Zier- und andern Unraths wo möglich zu ersetzen — fuhr der Vater fort — möge denn folgender Rath erwoben und angenommen werden. Da wir doch zunächst der Kinder wegen, und um ihnen Erheiterung und Erholung zu verschaffen, die Stadt verlassen und das Land aufgesucht haben, so wollen wir auch vor Allem darauf bedacht seyn, daß wir diesen unsern Lieben recht viel Angenehmes bereiten, nebst allem nur möglichen Nützlichen. Und darum mache ich den Vorschlag, der auch gewiß euren Beifall erhalten wird: daß wir jeden Tag, oder doch so oft, als es Umstände erlauben und Neigungen einladen, eine Stunde ausschließlich ihrer Unterhaltung widmen, und mit angemessenen Vorträgen und andern, Geist und Herz anregenden, ernsten und heitern Mittheilungen sie erfreuen.«
»Diesen Fall habe sie voraus gesehen — sagte die Tante — und darum habe sie ja eben in Ansehung der jugendschriften Nachsicht empfohlen und Ausnahme hingerathen, um der Kinder willen.«
»Damit sie nämlich — neckte der Onkel — auch einige Nachsicht und Ausnahme hätte erlangen mögen in Ansehung einer und der andern Schachtel.«
»Das Vorlesen aus Büchern, Kindern gegenüber — sagte der Großvater — erscheint mir so unnatürlich und wirkungslos zu seyn, wie eine abgelesene Predigt vor einer Dorfgemeinde. Das Volk und die Kinder wollen das lebendige Wort haben; sie wollen Aug’ in Aug’, Mund an Mund genießen; und an ihre Herzen geht nur, was von Herzen (par cœur) geht.
Mir wenigstens — sagte die Großmutter — kommt nichts unnatürlicher und verkehrter vor, als z.B. ein Mährchen, das vorgelesen wird. Wie es entstanden, so soll es auch fortgeleitet werden, als lebendige Sage. Die Frucht schmeckt am besten, wenn sie frisch vom Baume gepflückt wird. Ein niedergeschriebenes und vorgelesenes Mährchen erscheint mir wie ein Schmetterling, unter Glas und Rahmen gefaßt. Lieber schau’ ich ihn, wie er sich regt und bewegt auf Blumenkelchen, in den Lüften.«
»Und so ist es denn meine Meinung und mein Vorschlag — fuhr der Vater fort — es sollte jedes von uns, abwechselungsweise und zu festgesetzter Stunde, irgend eine Legende, ein Mährchen, eine Volkssage, oder sonst eine Erzählung mittheilen, die für die Kinder unterhaltend und belehrend, und auch für uns Große immerhin noch anziehend genug wäre. Den letztern Punkt dürfte man, wohlgemerkt! nicht aus dem Auge verlieren, damit man nicht Gefahr laufe, daß das Kindliche ins Kindische ausarte. Und ich glaube auch, daß dieser Forderung zu genügen sey. Denn gleichwie unser Umgang mit Kindern nicht nur nicht störend wirkt für sie und uns, sondern im Gegentheil recht sehr fördernd und jede herzliche Annäherung und geistige Erkräftigung anregend: also muß es auch, dünkt mich, eine Sprache, eine Auffassung und Darstellung der Gegenstände geben, welche Jung und Alt gleichmäßig anziehet und befriediget; wie denn in der That die echte Einfalt weise, und die echte Weish it einfältig ist.«
Die Tante bemerkte scherzend, daß dieß doch kaum möglich sey, zumal im Angesicht der Männer, deren Schul- und Weltweisheit zu eng und zu weit sey, um das rechte Maß zu erkennen und anzuerkennen.
»Das sey unsere Sorge — erwiederte der Onkel — an mir wenigstens soll es nicht fehlen, daß der kritische Maßstab richtig gehandhabt werde; und ich werde es jederzeit zu rügen wissen, wenn z.B. die Einfalt gar zu einfältig, oder die Weisheit gar zu naseweis erscheinen würde.«
»Weil nun aber ich es war, der diesen Vorschlag gemacht hat — sagte der Vater — so ziemt es sich wohl, daß ich mit gutem Beispiele voraus gehe, und sohin gleich heute Abends mit einer solchen Unterhaltung beginne, die auch, ihres frommen Inhaltes wegen, dem Tage des Herrn, den wir morgen feiern werden, als vorbereitende Erbauung angemessen seyn sollte. Auch in Ansehung der Form wird die Erzählung genügen, und (setzte er lächelnd hinzu) ihr Uebrigen mögt nur geradezu ein Muster daran nehmen, wie man zu Kindern sprechen soll.«

aus: Ein Büchlein für die Jugend, Literarisch-Artistische Anstalt, München, 1834

Montag, 6. September 2010

Ilse Frapan – Hans Tapp in Mus


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Ja, daher hatte er seinen Namen! Und er machte ihm Ehre, das muß wahr sein. Und wie er ihn bekam, das ist leicht erzählt.

Er war drei Jahre alt damals. Auf dem Tische stand eine mächtige Schüssel Buchweizengrütze, wie ein grauer Berg in einem See von weißer Milch. Aller Augen hafteten begehrlich darauf, aber es gab noch nichts; die Mutter rief erst um den Tisch: »Seid ihr alle sauber?« Und als acht Hände zur Beköstigung in die Höh gereckt wurden, bemerkte sie, daß der Inhaber des kleinsten Paars Fäuste ein schwarzes Schnäuzchen hatte.

»Hans!« rief sie, »komm herüber, daß ich dir erst die Nase putze.« Da richtete er sich auf und nahm stramm und ernsthaft den geraden Weg über den Tisch, und da der Grützbrei just in der Mitte stand, konnt er's nicht vermeiden, auch hindurch zu gehen, blieb aber mit einem Zeh darin stecken; verlor das Gleichgewicht und fiel der Mutter kopfüber in den Schoß. Das gab ein Gekreisch.

»Nu nu,« sagte die Mutter, »da bist du freilich, aber das nenn ich einen Hans Tapp ins Mus! Hättest können einen Umweg machen.«

Und den Namen mußte er behalten. Als er größer wurde, ward er ein stämmiger Junge. Weißblondes Haar ringelte sich um seinen kugelrunden Kopf, darin saßen ein Paar runde blaue Augen, wie aufgerissen Knopflöcher, und dazwischen stand eine runde Nase, derb wie eine gesunde Kartoffel.

Seine Augen glänzten nicht, sondern schwammen stets in einem Ozean von Neugier und Verwunderung, seine Fäuste griffen hart zu, und er war kein Held aus der Schulbank. Das macht, die Großmutter hatte ihm zuviel Geschichten erzählt, abends, wenn sie spann. Die hörte er lieber als alles andre. Sie gingen ihm noch über die Buchweizengrütze, und das wollte viel sagen. Er hatte aber auch eine kluge Großmutter, die von allem wußte, was nachts zwischen zwölf und eins lebendig wird, und ihr Märchensack hatte keinen Grund. Sie wußte so gut von den Zwergen wie von den Unnererschen* Bescheid, aber die Elfengeschichte war die allerbeste. Hans hörte sie hundertmal mit an, und da wußte er sie auswendig. Aber nun wollte er die Elfen auch tanzen sehen. Wieder wußte die Großmutter Rat. »Wer in der Vollmondsnacht des Augusts,« sagte sie, »auf die Ellernwiese am Speckmoor geht, der sieht den Elfenreihn. Tausend blaue Glockenblumen stehen dort, drin wohnen die Elfen bei Tag; ein einziger Stengel aber trägt weiße Glocken, das ist das Haus des Elfenkönigs. Wer daran klopft mit dem Zeigefinger, just bei dem ersten Strahl des aufgehenden Mondes, dem muß der Elfenkönig Rede und Antwort stehen, und wenn der Frager klug ist und seine Macht zu gebrauchen weiß, so kann er selbst einmal König werden. »König ist ein gutes Geschäft,« sagte Hans, und als die Zaubernacht herankam, schlich er sich von der Buttermilch, statt auf den Heuboden, wo er mit seinen Geschwistern schlief, auf die Ellernwiese am Speckmoor, um den Mond aufgehen zu sehen. Und richtig fand er die Wiese, von der die Großmutter gesprochen hatte, und über und über besät war sie mit blauen Glockenblumen. Als er aber auch die hohe weiße Blume unter den dunklen entdeckte und sah, wie ein leises Leben sie hin und her zu bewegen schien, da konnt er's nicht erwarten, denn der Mond war säumig. »Mond hin, Mond her, heda Elfenkönig!« schrie der Junge und griff nach der Blume, aber in seinen täppischen Fingern zerbrach der zarte Stengel und blieb in seiner Hand.

»So ist's am allerbesten,« wollt er eben sagen, da zog ein weißer Nebel vor seinen Augen herauf, der ward dichter und dichter, daß er wild um sich griff, um ihn fortzuschleudern; aber es umzog ihn enger und fester, wie ein riesiges Spinnennetz, und dazwischen fühlte er ein Stechen und Zwicken, ein Zerren und Brennen, daß er nach den unsichtbaren Feinden schlug wie ein Besessener. Aber es ward nur immer toller. Wenn er schreien wollte, setzte sich's auf seine Lippen wie ein blutgieriger Mückenschwarm, bis er sich zuletzt, ein wütender Kreisel, dreimal um sich selber drehte und dann vorwärts schoß, die erzürnten Geister hinter ihm drein. Auf einmal war's, als geschähe ein Donnerschlag; es blitzte rote Funken vor seinen Augen, in seinem Hirn aber grollte der Donner endlos nach, -- er war mit der Stirn gegen einen dicken Erlenstamm gerannt, und es ward tiefe Nacht um ihn.

»Was treibst du denn, Junge?« fragte der Vater, der ihn am andern Morgen blödäugig und mit geschwollener Stirn im Grase liegen sah; »hat dir was Böses geträumt, daß du fortläufst in der Nacht und läßt uns suchen? Marsch! heim! und wasche dich.«

Da wanderte der Elfenbeherrscher, denn für den hatte er sich immer so lange vergebens gehalten, mit schlurfenden Schritten nach Haus. Aber es ging ihm schlimm; Großmutter hatte alles ausgeplaudert, und wo er heimkam, da lachten sie und nannten ihn erst recht: »Hans Tapp ins Mus« und fragten ihn: »Wo liegt dein Königreich« und sie wußten doch recht gut, die bösen Schelme, daß er sich nichts als eine blaue Beule erobert hatte. Es war aber Eine da, die ihn niemals neckte, sondern ihn für ganz so weise und tapfer hielt, wie Hans sich selber einbildete zu sein. Das war seine Gespielin Fife, des armen Heideschäfers Tochter. Darum steckte auch Hans am liebsten mit ihr zusammen und zog sie nur selten an den dicken Blondzöpfen, oder trat sie auf die nackten Zehe, denn er wollte zeigen, daß er Anhänglichkeit und Ergebenheit zu vergelten wisse.

Als nun Hans Tapp ein vierschrötiger Bursch geworden war, der das Wachstum seines Schnurrbarts über ein Vierteljahr lang beobachtet hatte, hielt er's an der Zeit, auf Abenteuer auszugehen, denn er wollte kein Bauer bleiben wie sein Vater. »Immer höger rup!« sagte er zur Heideschäfersfife, mit der er am letzten Abend vor seiner Ausreise auf dem Holunderzaun saß und seine Aussichten und Pläne überlegte. Fife hatte ihre Hände gefaltet und ihre nackten Füße übereinandergelegt, und der Mondschein badete sie silberweiß, obwohl sie bei Tage braun und sonnenverbrannt aussah. Aus ihren sanften Augen rannen Tränen um den scheidenden Spielkameraden, aber zu all seinen Worten nickte sie kräftig mit dem blonden Kopf, daß ihr fadenscheiniges rotes Mützchen von einer Seite zur andern wackelte.

»So einen haben sie noch nicht gehabt,« sagte Hans und reckte sich, »wo ich hintrete, da wächst kein Gras, warum sollt ich nicht König werden? Und wenn ich's dann bin und habe noch keine Frau, dann kannst du vielleicht meine Königin werden; also heirate lieber nicht, auf alle Fälle, du könntest sonst ein großes Glück verscherzen.«

Das alles versprach Heideschäfers Fife, und Hans zog von dannen.

Um diese Zeit aber regierte weiter im Norden, wo die Schneeberge sind, ein mächtiger König, dem war in seiner Jugend etwas Seltsames begegnet.

Er hatte sich einst auf der Jagd verstiegen, war in eine öde Felsenwüste gekommen. Immer weißer gleißten die Gletscher, immer lauter brüllten die Wasserfälle, immer näher rückten die Abgründe, immer beklommener ward es dem König ums Herz. Er nahm sein Horn und stieß einen hellen klagenden Hilfeschrei aus. Da verwandelte sich der Fels, auf dem er hing; er stand nun auf einer samtgrünen Matte, die übersäet war mit leuchtenden Blumen, himmelfarbenen, rosenroten und milchweißen, wie er seiner Lebtag nichts ähnliches gesehen. Darüber vergaß er aller Angst und bückte sich, um seiner schönen jungen Königin, die daheim mit dem Grützbrei auf ihn wartete (denn es war noch in der guten alten Zeit, wo auch die Könige Grütze aßen), einen seltnen Strauß zu bringen. Aber im Bücken erstarrten seine Glieder, seine Füße wurzelten fest, eisige Kälte durchfröstelte sein Blut. Der Gipfel des Schneebergs über ihm hatte auf einmal ein riesiges Antlitz bekommen, ein Paar gewaltiger Augen funkelten ihm aus den Spalten entgegen, und der Wind zischte ihm Worte zu, verständliche Worte. »Wer bist du Zwerg? und wer rief dich in Bergkönigs Gebiet? in Bergkönigs Garten?«

»Ich bin ein König wie du,« sprach der Gefangene stolz, Vettern sollten einander mit Achtung begegnen.«

»Du ein Könige nicht übel!« und der trotzige Riese lachte, daß es in allen Schluchten und an allen Felskanten donnerte, krachte und widerhallte, »nicht übel! Freilich nur ein König des armseligen Ameisenvolks, das seine Nester überall hin zu kleben versucht und unser altes Erbe über und über mit ewig krabbelndem Gewimmel bedeckt.«

»Ich bin ein Mensch,« sagte der König beleidigt, »ich habe ein Schloß mit dreizehn hohen Türmen und kein Nest. Ameisen kenn ich wohl! Du unterschätzest uns, weil wir kleiner sind als du, aber wir haben es hier! hier!« sagte der junge König und tippte sich selbstbewußt auf die glatte weiße Jünglingsstirn.

Da lachte der Riese noch lauter und gellender, und der König hätte sich gern die Ohren zugehalten, nur fand er es gegen den Anstand.

»Wohl; wenn du soviel Selbstvertrauen hast, brauche deinen Witz, finde dich ins Tal, ich halte dich nicht länger,« sprach der Berggeist.

Ja, ja! aber es gähnten ihm rechts und links blaugrüne Abgründe entgegen, seine Füße waren frei, aber sie bebten im Schwindel; verschwanden war der Garten mit seinen Blumen; das Riesenhaupt selbst, das ihn mit Grauen erfüllt, verschwamm im Nebel, und ganz einsam ward es und atemlos still.

»Hilfe! zu Hilfe!« schrie der Verirrte, von Todesangst gepackt. »Spring herab! ich fange dich, fange dich auf!« lispelte eine feine Stimme, und ein Quellwasser, das er bis dahin nicht bemerkt, blinkte verlockend wenige Schritte unter der Zacke, auf der er stand. Da faßte er wieder Mut, wagte es und sprang in das Quellbett, aber er fühlte kein Wasser und keine Kälte, sondern glitt so schnell und leicht abwärts wie auf Schneeschuhen oder auf dem Rücken einer glatten, glanzschuppigen Schlange.

Als er von fern die dreizehn Türme seines Schlosses erblickte, ward er wieder völlig er selbst, und huldvoll sprach er: »Du königstreues Bächlein, dich will ich fürstlich lohnen zum Dank für deinen Dienst. In eine rosenrote Marmorschale will ich dein Wasser sammeln, oder begehrst du lieber eine milchgrüne?« Und gnädig wandte er sich rückwärts. Hätte er nur das nicht getan! Denn voll Schrecken erkannte er, daß es wirklich eine schuppige Schlange gewesen, die ihn getragen hatte, eben glitt er über den Kopf hinab auf seine Füße. Und o, schlimmere Überraschung, es war des Berggeists Stimme, die ihm aus dem mächtig bezahnten Rachen entgegenrief:

»Es wäre töricht, auf Dankbarkeit zu rechnen bei eurem Geschlecht, den Dank hol ich mir selber, wenn dein Töchterlein zwanzig Jahr alt ist. Möcht's einmal in der Nähe sehen, wie so ein kleines Gewürm geht und steht und den Mund auftut.«

Der König zitterte bei der bösen Drohung. Wieder sah er sich überlistet, und noch dazu von einem, der da! da! (er tippte sich in Gedanken wieder aus die Stirn,) so unendlich hohl, plump und arm gegen ihn selber war. Er tröstete sich einzig mit dem Gedanken, daß er in neunzehn Jahren, die bis zu jenem schlimmen Tage noch verstreichen mußten, wohl da! da! ein Mittel finden würde, um den unverschämten Riesen mit Schanden abfahren zu lassen. Der aber schien seine Gedanken bis ins kleinste erraten zu haben, denn als sie vor dem Schloßtor standen, sprach die Schlange: »Ich fordere kein Versprechen, sondern weiß ein Mittel, dir die Mühe des Wortgebens und Wortbrechens zu ersparen, gib acht!« Alsobald schlüpfte aus dem Munde des Ungeheuers ein kleines zierliches Schlängelchen, ungefähr von Daumesdicke, das nickte schlau mit dem silbrigen Köpfchen und machte sich hurtig hinter dem entsetzten König her, der sich zum drittenmal geschlagen sah.

Seine junge Königin kam ihm in Tränen entgegen, so schwer hatte sein Ausbleiben sie geängstigt; und sogleich beschloß er, sein Abenteuer zu verheimlichen, einmal, weil er sie noch mehr zu erschrecken fürchtete, dann aber auch, weil er fühlte, daß seine Rolle bei diesen Vorgängen keine ruhmwürdige gewesen und daß die Mitteilung seinem Ansehen nicht eben förderlich sein möchte. Ein eigener Umstand kam seinem Entschlusse zu Hilfe. Wohl hatte er mit Grauen bemerkt, wie das Schlänglein unter die Wiege seines kleinen Kindes gekrochen war, aber niemand sonst schien das unheimliche Geschöpf an dieser Stelle wahrzunehmen, weder die Mutter noch die Wärterinnen, so daß der König sich oft ängstlich die Augen rieb, um sich zu überzeugen, daß er nicht träume. Aber er sah immer dasselbe. Die Jahre vergingen, und das Kind wuchs heran, aber neben ihm wuchs die Schlange, nur in dreifachem Maße. Sie war des Kindes ständige Begleiterin, lag, wenn es schlief, friedlich zusammengerollt neben ihm, aber die glänzenden gläsernen Augen schliefen niemals. Kein Auge als des Königs sah ihr Wachsen und Schwellen, das ihn Tag für Tag an die näherrückende Gefahr erinnerte, und das schreckliche Geheimnis drückte ihn oft so schwer in schlaflosen Nächten, als läge das ganze Gewicht der Schlange auf seiner Brust.

Indessen wuchs die junge Prinzessin unter so seltsamer Bewachung zu großer Schönheit und Kraft empor. Sie hieß im Lande: ,«die Glückliche«, denn keine Krankheit befiel sie, kein Unfall traf sie, aus drohenden Gefahren ward sie auf rätselhafte Art gerettet.

Bald erscholl der Ruf ihrer Klugheit und Schönheit über alle Lande, und als die Prinzessin achtzehn Jahre alt geworden, trat der Prinz aus dem Nachbarreiche eine lustige Brautfahrt an, die vor dem Schloß der schönen Sigune enden sollte. Da aber geschah etwas Schreckliches. Die Schlange, die bis dahin niemand als dem Könige sichtbar gewesen, lag plötzlich, ein Entsetzen für alle Augen, in ungeheurer Größe vor dem Tor der Burg, dehnte und reckte ihre gewaltigen Windungen und ließ ihre Silberschuppen in der Sonne spielen. Da überlegte der König im beklommenen Herzen, ob er nicht lieber seiner Tochter und ihrem Freier alles entdecken solle; aber es schien ihm hinwiederum zu spät für eine solche Eröffnung, und er konnte nicht aufhören, auf Rettung seines Kindes zu hoffen. So schwieg er abermals, erklärte mit zuversichtlicher Miene, das friedlich daliegende Ungeheuer sei Sigunens Schutzgeist und machte Anstalt, seine Tochter mit dem Nachbarprinzen zu verloben.

Ruhig sah die Schlange die Vorbereitungen mit an, eben so ruhig die Prinzessin, von der man nicht erfahren konnte, ob sie dem Freier gewogen sei oder nicht.

Als aber der festliche Tag da war, der Prunksaal von hohen Gästen strahlte und der junge Prinz mit siegbewußter Freude und glänzendem Gefolge auf Sigune zugeschritten kam, da sahen alle mit Schaudern, daß die schreckliche Silberschlange den Schweif des Festzuges bildete, und als der Jüngling sich zu seiner schönen Braut neigte und ihr den Ring anstecken wollte, tat das Ungetüm einen weiten Satz nach vorn, riß den zahnstarrenden Rachen auf und verschlang den Bräutigam, ehe sich noch ein Finger zu seiner Rettung erheben konnte. Das war denn doch selbst für eine Prinzessin zu stark: sie fiel in Ohnmacht und mit ihr sämtliche Damen des Hofes, indes der König wie versteinert in die zornfunkelnden Augen des Tieres starrte, das niemand anzugreifen wagte, nicht einmal an der äußersten Schwanzspitze.

Von diesem Augenblick an nannte man die Schlange den Reichsfeind, und der bekümmerte König ließ überall bekannt machen, daß, wer ihn besiege, sein Schwiegersohn werden solle; sehr zum Ärger der Prinzessin, der solche Verfügung über ihre Hand Schmach und Erniedrigung dünkte. So kam es denn auch, daß sie alles Interesse an ihren Bewerbern verlor, da nicht der Wunsch, sie zu gewinnen, weil sie ihren Wert kannten, sondern Abenteuersucht und Ruhmbegier die meisten in ihres Vaters Reich lockte; und weil sie sicher war, zu rechter Zeit die Schlange mit dem grundlosen Rachen den Beschluß machen zu sehen, so ließ sie sich gleichmütig heute einen blonden und morgen einen schwarzhaarigen Freier vorführen und hatte kein andres Gefühl mehr für sie, als kalte Neugier, die nur erwartete, unter welchen besonderen Umständen ihre Vertilgung stattfinden werde, und ob nach längerem oder kürzerem Werben. Ihre Eltern aber und das Land trauerten tief über das Unheil, und Sigune ward nun nicht mehr die Glückliche genannt.

Da geschah es, daß unser Hans Tapp ins Mus seine gewichtigen Wanderschritte nach dem trauernden Lande lenkte, und obgleich seine erste Erfahrung mit der Geisterwelt keine sehr angenehme gewesen, klopfte er sich wohlgemut auf den Magen, als auf sein zuverlässigstes Organ und rief voll Selbstvertrauen: »Sei munter, tapferer Hans! Dies ist die Gelegenheit! Nun wirst du endlich doch noch König. Hurra! höger rup!«

Und dann stärkte er sich herzhaft hinter Schüssel und Flasche, pflückte aus dem Krautgarten seines Wirtes zwei stattliche Sonnenblumen, von denen er eine als goldne Kokarde an seinen Hut, die andre auf sein Wams pflanzte, faßte den nägelbeschlagenen Knotenstock derb mit der Faust und trat kurzfertig in die goldene Halle des Königs als Bewerber um sein schönes Töchterlein. Als Sigune aber den protzigen Lümmel mit seinem runden Flachskopf und seinen Sonnenblumen auf dicken Bauernschuhen daherstaken sah, hielt sie sich vor Lachen das Taschentuch fest auf den Mund, so daß Hans sich teilnehmend erkundigte, ob sie Zahnreißen habe und ihr ein Hausmittel seiner Großmutter anempfahl. Da aber lachte sie ihm offen ins Gesicht und bekannte, daß sie noch nie seinesgleichen gesehen, was Hans bescheidentlich als eine gar zu große Schmeichelei abwehrte. So hochmütig sie sich aber auch benahm, sie konnte ihm den Versuch, ihr Gemahl zu werden, nicht verweigern, hoffte aber fester als je auf den Zorn der Schlange, die so viele annehmbare Bewerber ohne Sang und Klang beseitigt hatte.

Ja, so sehr wünschte sie, von des biederen Hansen Gegenwart befreit zu werden, daß sie sofort ihren Vater sein Jawort geben und den Verlobungsring herbeibringen ließ, ohne einen Augenblick Aufenthalt. Und sogleich auch wälzte sich in den Saal lautlos und schimmernd die gefürchtete Schlange, und viel Volks strömte hinterdrein, obgleich es dies Schauspiel Tag für Tag sich hatte wiederholen sehen.

Und wie jedesmal vorher bäumte sich beim Erfunkeln des Verlobungsringes der Kopf des Untiers hinter dem ahnungslosen Todeskandidaten empor, der denn auch wie seine Vorgänger lautlos zwischen den weißen Zahnreihen verschwand. Nein, -- nicht ganz verschwand! Der Rachen blieb klaffend, und Hansens Kopf erschien auf einmal wieder. Ein ungeheurer vielstimmiger Schrei der Überraschung und Freude durchschütterte den Saal. Hans war mit seinen Nagelschuhen zwischen den Zähnen des Tieres hängen geblieben und arbeitete sich nun mit einem Rucke los, schwang sich kräftig an dem Oberkiefer empor, und -- trat dem Ungeheuer mit aller Gewalt auf die Nase, so daß es einen donnerähnlichen Nieser ertönen ließ. Sprachlos wendete sich die Prinzessin ab, das Volk umher jauchzte laut und schrie dem Hans zu, seinen Vorteil nachdrücklich wahrzunehmen. Da stellte sich der Unerschrockene breitbeinig vor die Schlange und schrie mit aller Kraft seiner Lunge: »Bekennst du dich besiegt?« Auf diese Frage ertönte ein zweites Niesen, dieses Mal so stark, daß alle Spiegel im Schlosse an zu klirren, alle Glocken an zu läuten und alle Instrumente an zu spielen fingen, und in diese Musik hinein ertönte der allgemeine Jubelruf: »Es hat geniest, und niesen bedeutet ja!« Die Schlange aber zog sich ein Stückchen rückwärts, beschämt wie ein Löwe, der seinen Sprung verfehlt hat. Wie nun Hans die Thronstufen der Prinzessin erklomm und sie ihn mit ihren stolzen Augen niederblitzen wollte, raunte ihr der Vater voll bleicher Angst ins Ohr: »Du mußt ihn nehmen, Kind, in wenig Tagen bist du zwanzig Jahr alt, -- ein furchtbares Schicksal ist dir bestimmt -- vielleicht wird dieser uns retten von Tod und Verderben« -- --

Da merkte Sigune, daß ihr Vater wußte, was ihr selbst verborgen war und trachtete, Ausschub zu gewinnen. Sie stellte sich gleichmütig gegen den Sieger und sprach: »So mögt Ihr mir den Brautkuß küssen.«

»Ihr sollt mich nicht umsonst gebeten haben, stolze Dame, mit Freuden tu ich's!« rief Hans Tapp ins Mus begeistert, »höger rup! höger rup!« und er dehnte und streckte sich gewaltig. Aber es langte nicht, er konnte die Prinzessin nicht erreichen und küßte nur immer in die leere Luft.

Das nahm er fast übel. »Ich glaube, Ihr seid scherzhaft, Jungfer Braut,« rief er betreten, »aber ich will's schon machen, höger rup!« Und er streckte sich, so gut er konnte.

Könnt Ihr noch nicht anlangen, guter Hans?« spöttelte die Prinzessin, »ist mir leid, kommt aber, scheint's, vom Standesunterschied. »

»Alles ausgeglichen durch meine Heldentat!« und Hans erhob seinen nägelbeschlagenen Absatz.

Da ward die Prinzessin rot vor Unwillen. »Noch nicht ganz ausgeglichen, wie Ihr seht! Und so leid mir's tut, muß ich dennoch auf Eure liebwerte Person verzichten, falls Ihr mich nicht zu küssen vermögt.«

»Den Kummer möcht ich Euch nicht antun,« erwiderte der Unerschütterliche, »auch werdet Ihr Rat wissen, Ihr schaut mir wie ein schlaues Frauenzimmer aus.«

»Großen Dank für die gute Meinung,« sprach die Prinzessin verächtlich, »und Rat wüßt ich wohl. Wenn Ihr zu meiner Höhe aufreichen wollt,« sagte sie weiter, und ihre Augen blitzten so kalt und tief wie dunkle edle Steine, »so müßt Ihr ein frisches Menschenherz unter Eure Füße legen; wenn Ihr das erfüllt, dann » -- »Weiter nichts?« rief Hans, »weiter nichts? Ei, da werd ich bald Euer herzliebster Herr und Gemahl und dazu der König dieses guten Landes sein! Übermorgen, wenn die Sonne untergeht, bin ich wieder zur Stelle.«

Und ohne zärtlichen Abschied schritt er von dannen und wanderte, wanderte, bis er in seine Heimat kam, und fast außer Atem trat er in das Hüttchen der Heideschäfersfife.

Wie ihm das gute Mädchen entgegenflog! »Hans, Hans,« rief sie mit tausend Tränen, »bist du endlich zu der armen Fife gekommen!«

»Jawohl!« sagte er freundlich und ließ sich küssen und herzen, »ich habe eine Bitte, Fife.«

»Ich weiß wohl, was es ist,« flüsterte das Mädchen in verschämter Glückseligkeit, »du bist gekommen, um mich endlich heimzuführen.«

»Nein,« sagte er unbefangen, »das werd ich schön bleiben lassen. Ich kann eine Prinzessin bekommen, es ist so weit. Aber du bist immer eine treue Seele gewesen, ja, ich weiß es, Fife, weine nur nicht, und da dachte ich, du würdest mir gern einen kleinen Dienst leisten, von wegen unsrer alten Freundschaft.«

Und nun rückte er heraus mit seinem Anliegen.

»Wenn du dein Herz doch einmal mir geschenkt hast,« sprach er väterlich, »was ist es dann dir noch nutz? ich aber kann dadurch König werden.«

Da gab die arme Fife ihr blutendes Herz hin, ... und Hans eilte mit Siebenmeilenschritten zu der Prinzessin, warf das blutende Herz vor ihrem Thron auf den Boden, trat darauf und wollte Sigune umfangen, denn sie waren nun von gleicher Größe. Das zertretene Herz aber klagte leise, und als die Prinzessin das hörte und sah, wie er ihren Willen erfüllt hatte, da stieg ihr der Widerwille und Abscheu über den Kopf, und mit einem Ruck ihrer schlanken Hand schleuderte sie ihn von sich und rief:

»Eine Versuchung war's, und du bist ihr unterlegen; für Glanz und Herrschaft hast du ein warmes Menschenherz zertreten; du bist kein Held! ein Held hätte nimmer solchem Gebot gehorcht. Niemals sollst du mein Angesicht wiedersehen!«

Dann wandte sie sich zu ihrem Vater und rief, während ihre Augen immer kältere Strahlen schossen und ihre Gestalt sich immer stolzer emporreckte: »Was hat dich geplagt, mein Vater, daß du mir das Geheimnis verbargst? Mir, die es angeht? Nun hat die Schlange mir alles offenbart, auch wie der mächtige Geist so treu um mich bemüht gewesen. Meinetwegen hätte nicht eins der schmucken Bürschlein sein Leben verlieren dürfen! Die Sorge war umsonst, freiwillig geh ich zum Berggeist!«

Da rauschte es über den dreizehn Türmen des Schlosses, ein Sturm hob das Dach der Halle empor, und ein Riesenhaupt wie eine Wolke verdunkelte das Blau des Himmels.

»Siehst du, Zwergenkönig,« höhnte die trotzige Stimme, »wir wissen, was wir tun, wenn wir neunzehn Jahre warten!«

Und er fing die Prinzessin wie ein Sonnenstäubchen, setzte sie sich in den Bart und brummelte zufrieden: »Da sitze und da krabble nun, bist ein wackres Silberläuschen. Hast es auch da! da! Ganz wie dein Herr Vater, da! da! ha! ha!«

Und langsam verschwand er im Nebel, indes das wilde Lachen noch forthallte und das Dach sich langsam, langsam senkte.

Vergebens bot der König seine Mannen auf, vergebens raufte die Königin ihr Haar,« Sigune kam niemals wieder. Aber immer noch tappt Hans durch die Welt auf der Suche nach seinem Königreich, und noch immer liegt das arme zertretene Herz im Staube.

* Unterirdischen

Verlag von Gebrüder Paetel, Berlin, 2. Auflage 1908, S. 35ff.

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